Die zweite Stufe der Einsamkeit
Würfel zog. Daran hing etwas, das wie eine vier Fuß große Ameise aussah. Aber Aussehen täuscht.
Es gab ein wenig Gemurmel – Abscheu, obwohl die meisten aus dem Publikum schon bei anderen Gelegenheiten Fotos von ihnen gesehen hatten. Becker unterdrückte es rasch. „Lassen Sie sich nicht zum Narren halten“, warnte er. „Trotz allem, was Ihnen Ihre Augen zeigen, ist das keine große Ameise. Es ist nicht einmal ein Insekt. Kein Exoskelett, zum Beispiel, obwohl es auf den ersten Blick wie eines aussieht. Und dieses Insekt, so glauben wir, ist recht intelligent. Ihre Kultur unterscheidet sich von der unseren ganz wesentlich. Aber sie haben ihren eigenen Sinn für Schönheit. Schauen Sie sich ihre Stadt noch einmal an.“
Er berührte seinen Holowerfer. Die hängende Spinnenameise verschwand, und wieder erhoben sich die Türme mitten auf dem Teppich. Derselbe Blickwinkel. Aber diesmal Nacht. Und das machte einen Unterschied.
Denn die Türme leuchteten.
Schwarz im rötlichen Tageslicht, glühten sie jetzt in einem sanften, grünen Licht. Ein prachtvolles leuchtendes Maßwerk gegen die Dunkelheit, so stiegen sie höher und höher, und jede Schlinge und jedes Netz bot ein gänzlich eigenes, sanftes Strahlen. Unglaublich kompliziert.
Becker erschauerte – sich selbst zum Trotz – noch immer bei diesem Dia. Wie er damals erschauert war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Persönlich. Das Holo erweckte Träume und Erinnerungen und ließ ihn seine Wirklichkeit um so mehr hassen.
Das haben sie mir weggenommen, dachte er. Für immer. Und mir – was dafür gegeben? Nichts. Jedenfalls nichts, was ich möchte.
Aber er sagte nur: „Und wenn die Morgendämmerung kommt …“ Und das Dia wechselte.
Jetzt überzog ein rötlich-gelbes Leuchten den Horizont hinter der Stadt, und das Strahlen der Türme war blasser und ersterbend. Aber etwas Neues und genauso Ehrfurchtgebietendes war neu hinzugekommen. Denn jetzt wimmelte das Netz der Stadt von Leben. Von jedem Zweig und jedem Strang und jeder Schlinge hingen Spinnenameisen herunter. Baumelten selbst an den höchsten Türmen, fast eine Meile über dem Boden. Zusammengedrängt, übereinander hinwegkriechend, dennoch irgendwie ordentlich. Die ganze Stadt.
„Das machen sie bei jeder Morgendämmerung“, sagte Becker. „Und wenn ihre Sonne aufgeht, singen sie ihr zu.“
Wenn man es überhaupt Lied nennen kann, dachte er. Für meine Ohren war es in jener ersten Nacht außerhalb des Landegleiters ein Stöhnen. Aber unheimlich. Aufsteigend und fallend, auf und ab, Stunde um Stunde. Sogar Wilson war von Ehrfurcht ergriffen. Eine Million Wesen, die zusammen stöhnten, ihrer Sonne eine Hymne stöhnten.
Sein Daumen schnellte nieder und wieder hoch, und plötzlich betrachteten sie eine Nahaufnahme eines Netzstranges, schwer mit Spinnenameisen beladen. Dann folgte ein weiteres Bild: eine andere Stadtansicht. Und nach einer Weile noch eine andere, und noch eine. Und die ganze Zeit fuhr er zu sprechen fort und erzählte von dieser seltsamen Rasse und dem wenigen, was sie über sie erfahren hatten.
Die Sternenwind lag mehr als sechs Monate im Orbit um Ameisenhügel und schickte regelmäßig Landegleiter hinunter. „Aber die Spinnenameisen sind noch immer eine Rasse unbeantworteter Fragen. Wir haben noch immer nicht ihre Sprache entschlüsselt oder bestimmt, wie intelligent sie wirklich sind. Sie scheinen keine Technologie in unserem Sinne zu haben. Aber sie haben … nun … sie haben etwas anderes.“
Weitere Ansichten der Stadt erschienen und vergingen. Und dann von anderen, gleichen Städten. Und manche von weniger gleichen; von einer, die sich aus dem brackigen Meer des Planeten erhob und von einer anderen, deren Türme seitlich vorsprangen, um in einer verwirrenden Umarmung zwei Berge zu verbinden.
„Wir waren schon fast einen Monat da, bevor man uns in die Türme hinaufließ“, fuhr Becker fort. „Und selbst dann haben wir noch eine ganze Weile gebraucht, bis wir gemerkt haben, daß die Städte der Spinnenameisen nicht gebaut, sondern gewachsen waren. Diese Türme sind überhaupt keine Gebäude. Es sind Pflanzen: riesig, unglaublich kräftig, unglaublich kompliziert. Aber – trotz allem – Pflanzen.“
Lawrence war der erste, der das herausgefunden hat, erinnerte er sich. Er war so verdammt aufgeregt, als er zurückkehrte; er hat sogar unzusammenhängend geredet. Aber dazu hatte er allen Grund. Es war unser erster Hinweis. Zuvor hat nichts einen Sinn ergeben.
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