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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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die phantastischen Netzstädte von Arachne waren weitaus schöner – aber dieser schlanke, blaue Turm war immerhin eindrucksvoll genug, wie er sich dort in einsamer Größe über die Heiligen Hügel erhob.
    Der Raumhafen lag im Schatten des Turms; eine leicht zu bewältigende Entfernung. Aber wie auch immer: Wir wurden jedenfalls abgeholt. Ein niedriges, stromlinienförmiges, purpurnes Flugauto stand mit summenden Maschinen am Fuß der Rampe, als wir von Bord gingen; der Fahrer döste hinter dem Steuer. Dino Valcarenghi stand daneben, an die Tür gelehnt, und sprach mit einem Adjutanten.
    Valcarenghi war der Planetare Administrator, der Wunderknabe dieses Sektors. Jung – natürlich –, aber das hatte ich gewußt. Klein und gutaussehend, ein dunkler, beeindruckender Typ mit schwarzem, dichtgelocktem Haar und einem fröhlichen, überaus charmanten Lächeln.
    Dieses Lächeln ließ er zu uns herüberblitzen, und als wir von der Rampe heruntertraten, kam er zu uns und schüttelte uns die Hände. „Hallo“, begann er, „freut mich, Sie zu sehen.“ Es gab kein Tamtam mit formellen Vorstellungen. Er wußte, wer wir waren, und wir wußten, wer er war, und Valcarenghi gehörte nicht zu der Sorte Mann, die auf Zeremonien sonderlich großen Wert legten.
    Lyanna nahm seine Hand sanft in die ihre und schenkte ihm ihren Vampirblick: große, dunkle Augen, weit geöffnet und durchdringend, ein winziges, leichtes Lächeln um den schmalen Mund. Sie ist ein kleines Mädchen, dünn, fast wie ein streunender Hund, mit kurzem, braunem Haar und der Figur eines Kindes. Sie kann sehr zerbrechlich und sehr hilflos aussehen. Wenn sie das will. Aber mit diesem Blick bringt sie die Leute durcheinander. Wenn sie wissen, daß Lya Telepathin ist, sind sie sicher, daß sie gerade in ihren intimsten Gedanken herumstochert. In Wirklichkeit aber spielt sie nur mit ihnen. Wenn Lyanna wirklich liest, versteift sich ihr ganzer Körper, und man kann fast sehen, wie sie zittert. Und dieser anmaßende, seelenleersaugende Blick wird leer und starr und steinern.
    Aber das wissen nicht viele Leute, und deshalb winden sie sich unter ihrem Vampirblick und weichen ihm aus und versuchen, ihre Hand so schnell wie möglich wieder loszulassen. Valcarenghi allerdings nicht. Er lächelte nur, starrte zurück und wandte sich dann mir zu.
    Ich allerdings las wirklich, als ich seine Hand nahm – meine übliche Vorgangsweise. Und eine schlechte Angewohnheit, schätze ich: Sie hat einigen vielversprechenden Freundschaften ein frühes Ende bereitet. Ich bin nicht so talentiert wie Lya. Dafür ist es aber auch nicht so anstrengend. Ich lese Emotionen. Valcarenghis herzliche Art kam stark durch; sie war aufrichtig. Nichts war unterlegt – oder wenigstens nichts, das der Oberfläche nahe genug gewesen wäre, daß ich es hätte auffangen können.
    Wir schüttelten auch dem Adjutanten die Hand, einem blonden Storch mittleren Alters namens Nelson Gourlay. Dann schob uns Valcarenghi alle in das Flugauto, und wir starteten. „Ich nehme an, Sie sind müde“, sagte er, als wir in der Luft waren, „deshalb sparen wir uns die Stadtbesichtigung und fliegen direkt zum Turm. Nelse wird Ihnen Ihr Quartier zeigen, dann können Sie uns bei ein paar Drinks Gesellschaft leisten, und dabei werden wir das Problem besprechen. Sie haben das Memorandum gelesen, das ich Ihnen geschickt habe?“
    „Ja“, sagte ich. Lya nickte. „Interessante Situation, aber mir ist nicht ganz klar, warum wir hier sind.“
    „Wir werden früh genug darauf zu sprechen kommen“, entgegnete Valcarenghi. „Ich sollte Sie jetzt die Aussicht genießen lassen.“ Er zeigte zum Fenster, lächelte und schwieg konsequent.
    Also genossen Lya und ich die Aussicht oder das, was wir während des Fünf-Minuten-Fluges vom Raumhafen zum Turm genießen konnten. Das Luftauto fegte in Baumkronenhöhe die Hauptstraße hinunter, wirbelte im Vorbeifliegen eine Brise auf, die die dünnen Äste wippen ließ. Es war kalt und dunkel im Innern des Wagens, aber draußen ritt die Shkeen-Sonne zum Zenit empor, und über dem Pflaster konnte man die Hitzeschlieren schillern sehen. Die Bevölkerung mußte sich in ihren Häusern um die Klimaanlagen drängeln, denn in den Straßen herrschte kaum Verkehr. Wir landeten in der Nähe des Turm-Haupteingangs und gingen durch ein gewaltiges, blitzsauberes Foyer. Dann verabschiedete sich Valcarenghi, um sich mit einigen Untergebenen zu unterhalten. Gourlay führte uns zu einer der Röhren, und

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