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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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jeder andere auch“, sagte Becker und klemmte sich den Holowerfer unter einen Arm. „Ich denke, Ihre Arbeit ist lebenswichtig. Ich fühle mit diesen Kindern. Aber Sie sollten es auch einmal mit ein bißchen Einfühlungsvermögen versuchen. Und versuchen Sie zu verstehen, was wir tun.“
    „Was Sie tun, ist ein Luxus, solange auf der Erde Kinder hungrig sind“, sagte der Direktor.
    Becker schüttelte den Kopf. „Nein. Es muß Platz für beides geben. Sagen wir, Sie retten ein Kind vor dem Tod, Doktor. Schön. Aber was geben Sie ihm für ein Leben? Ein ziemlich düsteres, ohne die Sterne. Und ein hoffnungsloses, auf lange Sicht hinaus. Vielleicht kann der Mensch auf der Erde überleben, allein. Ich glaube, er könnte es. Aber seine Träume könnten es nicht, und seine Mythen können es nicht. Es gibt zu viele Leute, und sie haben alle Träume verdrängt. Und für niemanden ist Leben übriggeblieben. Nur ein Überleben von Tag zu Tag.“
    Er machte eine Pause. Es war eine gute Rede, seine eigene Wiedergabe von Argumenten, die er Hunderte von Malen im Hauptquartier von SPACE gehört hatte. Es reichte. Aber er wollte noch mehr hinzufügen. Er war verärgert und aufgebracht, und er fuhr fort.
    „Ich werde Ihnen noch etwas sagen, Doktor. Ich denke, wir brauchen sowohl Ihre als auch meine Arbeit, sowohl die Erde als auch die Sterne. Aber ich denke, das Gleichgewicht hängt falsch. Ich denke, wir brauchen die Sterne nötiger.“
    Er schlug mit seiner freien Hand auf den Holowerfer. „Glauben Sie, ich mag diesen Quatsch? Ich hasse das, Doktor. Genau wie Sie es hassen würden, wenn Sie es immer machen würden. Ich habe mein ganzes Leben lang von den Sternen geträumt, und dann sagt man mir, daß ich nicht gut genug bin, um auf einem Sternenkreuzer einen festen Platz zu bekommen. Nicht daß ich schlecht wäre, wohlgemerkt. Ich bin bloß nicht hervorragend genug. Und es gibt so wenige Plätze.
    Sagen Sie mir, Doktor, wie würden Sie sich fühlen, wenn Weltreg plötzlich verkünden würde, daß nur die besten vierhundert Ärzte auf der Welt Medizin praktizieren dürfen? Würden Sie das Niveau schaffen? Was würden Sie tun? Können Sie sich vorstellen, wie das wäre? Durch das Leben zu gehen, Tag um Tag, zu wissen, was Sie tun wollten – und zu wissen, daß es Ihnen versagt ist, vielleicht für immer. Versuchen Sie, sich das vorzustellen, wenn Sie es können. Versuchen Sie, das zu kosten. So ist es für mich, verstehen Sie?
    Man kann auf der Erde nicht leben, Doktor. Ich jedenfalls kann es nicht. Ich kann existieren, aber ich nenne es nicht leben. Ich habe die Wildwellen von Sturm gesehen und habe zugehört, wie die Spinnenameisen ihre Dämmerung besingen. Soll ich mich mit aus Gedanken gesponnenen Reisen und Footballspielen zufriedengeben?“ Er schnaubte.
    Auch während Beckers Ausbruch hatte der Doktor weiterhin ruhig an seinem Kaffee genippt. Jetzt senkte er die Tasse, seufzte und schüttelte ein weiteres Mal müde den Kopf.
    „Commander, Sie tun mir leid“, sagte er. „Sie hören sich sehr bitter an. Als seien Sie betrogen worden. Aber Sie haben so unglaubliches Glück gehabt. Und Sie merken es nicht. Sie haben Dinge getan, von denen die meisten Leute nur träumen, doch Sie beklagen sich über ein leeres Leben. Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sind auf einem Sternenkreuzer geflogen, auch wenn es nur ein einziges Mal war. Commander, ich will Ihnen etwas sagen. Unten, in der Unterstadt, habe ich Patienten, die überhaupt noch niemals die Sterne gesehen haben. Und Sie waren dort.“
    Becker, dessen Zorn sich gelegt hatte, zeigte ein wehmütiges Lächeln, das irgendwie nicht zu seinem Charakter zu passen schien. Aber es war sehr aufrichtig.
    „Ich habe daran gedacht“, sagte er traurig. „Manchmal. Vielleicht haben Sie recht. Aber es hilft nicht, Doktor. Ich wünschte, es würde helfen. Aber nein …“ Er überlegte einen Moment lang. „Mir tun alle Ihre Patienten leid, alle, die die Sterne noch nie gesehen haben“, sagte er, als er fortfuhr. „Wissen Sie, ich schätze, das ist fast schlimmer als Hunger. Obwohl es nicht fair ist, wenn ich das sage, da ich nie wirklich hungrig gewesen bin. Ich hoffe, daß Sie Ihre Kinder eines Tages in die Oberetagen bringen, damit sie durch den Smog einen Blick auf die Sterne werfen können.“
    Daraufhin zuckte Becker mit den Schultern. „Aber sie sind nicht die einzigen, die mir leid tun. Mit tut jeder leid, der die Sterne gesehen hat und nicht zu ihnen hinausfliegen kann.

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