Die zweite Stufe der Einsamkeit
ehrliche Sorge, aber keine Furcht, und nicht einmal die Spur einer Verstellung. Wieder konnte ich unter der Oberfläche nichts entdecken. Valcarenghi hielt seine geheimsten Regungen – vorausgesetzt, er hatte so etwas überhaupt – gut verborgen.
Ich warf Lya einen flüchtigen Blick zu. Sie saß verkrampft in ihrem Sessel, und ihre Finger waren sehr fest um das Weinglas geschlungen. Sie las. Dann entspannte sie sich, sah zu mir herüber und nickte. „Also gut“, sagte ich. „Ich glaube, wir können es schaffen.“ Valcarenghi lächelte. „Das habe ich nie bezweifelt“, sagte er. „Es war nur fraglich, ob Sie dazu bereit sein würden. Aber für heute nacht genug vom Geschäft. Ich habe Ihnen einen Abend in der Stadt versprochen, und ich pflege meine Versprechen immer zu halten. Wir treffen uns unten, im Foyer, in – sagen wir – einer halben Stunde.“
Wieder in unserem Zimmer, wechselten wir die Kleidung; wir zogen uns etwas Förmlicheres an. Ich entschied mich für eine dunkelblaue Tunika mit weißen Hosen und einem dazu passenden Netzhalstuch. Nicht gerade der allerletzte Schrei, aber ich hoffte, daß man auf Shkea einige Monate hinterherhinkte. Lya schlüpfte in ein seidiges, weißes Etwas, das ihren Körper wie eine zweite Haut umhüllte; der Stoff wurde von schmalen, blauen Linien durchzogen, die unter dem Einfluß ihrer Körperwärme zu wandern begannen. Die Linien waren zweifellos sinnlich; sie betonten ihre zerbrechliche Figur mit eindeutiger Bestimmtheit. Ein blaues Regencape ergänzte ihre Gala.
„Valcarenghi ist sonderbar“, sagte sie, als sie es sich um die Schultern warf.
„So?“ Ich kämpfte mit dem Haftsaum meiner Tunika, der sich weigerte zu haften. „Hast du etwas aufgeschnappt, als du ihn gelesen hast?“
„Nein“, sagte sie. Sie hatte sich das Cape umgehängt, die Verschlüsse geschlossen und bewunderte sich im Spiegel. Dann wirbelte sie zu mir herum, das Cape flatterte hinter ihr her. „Ich werd’s dir sagen. Er hat das gedacht, was er auch gesagt hat. Oh, natürlich mit einigen Variationen, was die Formulierung betrifft und all das, aber nichts Wichtiges. Sein Geist war auf unser Gespräch konzentriert, und dahinter war nur eine Mauer.“ Sie lächelte. „Ich konnte nicht ein einziges seiner tiefschwarzen Geheimnisse herauskriegen.“
Ich kam endlich mit dem Haftsaum zu Rande. „Tztz“, machte ich. „Nun, du hast noch eine Chance – heute nacht.“
Das brachte mir eine Grimasse ein. „Die Hölle werd’ ich tun. In der Freizeit lese ich keine Leute. Es ist nicht fair. Und außerdem – es ist so anstrengend. Ich wünschte, ich könnte Gedanken so leicht wahrnehmen wie du Gefühle.“
„Der Preis des Talents“, sagte ich. „Du bist talentierter, deshalb zahlst du einen höheren Preis.“ Ich durchwühlte unser Gepäck nach einem Regencape, fand aber nichts Passendes, und so entschloß ich mich notgedrungen, keines zu tragen. Capes waren sowieso nicht mehr in Mode. „Ich hab’ auch nicht viel aus Valcarenghi herausgebracht. Aus seinem Gesichtsausdruck hätte man genausoviel ablesen können. Er muß ein ziemlich disziplinierter Bursche sein. Aber das verzeihe ich ihm. Er serviert einen guten Wein.“
Lya nickte. „Wie wahr! Dieses Zeug hat mir richtig gutgetan. Ich bin sogar die Kopfschmerzen los, mit denen ich aufgewacht bin.“
„Die Höhe“, erinnerte ich. Wir gingen zur Tür.
Das Foyer war leer, aber Valcarenghi ließ uns nicht lange warten. Dieses Mal fuhr er sein eigenes Luftauto, ein verbeultes schwarzes Vehikel, das er offensichtlich schon lange hatte. Gourlay war kein geselliger Typ, aber Valcarenghi hatte eine Frau bei sich, eine atemberaubende, brünette Erscheinung namens Laurie Blackburn. Sie war noch jünger als Valcarenghi, Mitte Zwanzig, ihrem Aussehen nach zu urteilen.
Es war Sonnenuntergang, als wir starteten. Der ganze weite Horizont war ein prächtiger Flammenvorhang aus Rot und Orange, und eine kühle Brise von den Ebenen bewegte ihn. Valcarenghi ließ die Klimaanlage ausgeschaltet und öffnete die Wagenfenster, und während wir dahinglitten, sahen wir zu, wie die Stadt im Zwielicht versank.
Das Abendessen nahmen wir in einem luxuriösen Restaurant ein; im baldurianischen Stil – ich nahm an, damit wir uns ein bißchen heimisch fühlten. Die Speisen allerdings waren recht interplanetar. Die Gewürze, die Kräuter, die ganze Art zu kochen – das alles stammte von Baldur. Die Fleisch- und Gemüsesorten waren hiesige Produkte. Das
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