Die zweite Stufe der Einsamkeit
aus allen Richtungen herbei, durch den Torbogen, aber die meisten von ihnen hielten sich schon im Innern auf. Wir schlossen uns den Nachzüglern an, und niemand – außer einem Burschen, der Valcarenghi mit dünner, krächzender Stimme begrüßte und mit Dino anredete – hatte auch nur einen zweiten Blick für uns übrig. Er hatte sogar hier Freunde.
Das Innere der Kuppelhalle war ein gewaltiger Raum, mit einem großen, einfachen Podium, das in der Mitte errichtet worden war und von einer riesigen Shkeen-Menge umringt wurde. Das einzige Licht war das von Fackeln, die in Halterungen entlang der Wände gesteckt worden waren oder auf hohen Stangen das Podium umgaben. Jemand sprach gerade, und alle diese großen, vorgewölbten Augen waren auf ihn gerichtet. Wir vier waren die einzigen Menschen in der Halle.
Der Sprecher, von den Fackeln grell beleuchtet, war ein fetter Shkeen mittleren Alters, der beim Reden langsam, mit fast hypnotischen Gesten, die Arme bewegte. Seine Sprache war eine Folge von Pfiffen, Krächzern und Grunzern, und deshalb hörte ich nicht sonderlich genau hin. Er war viel zu weit entfernt, als daß ich ihn hätte lesen können. Mir blieb also nur eins übrig: Ich studierte seine äußere Erscheinung und die von anderen Shkeen in meiner Nähe. Soweit ich sehen konnte, waren sie alle haarlos, mit weich aussehender Orangenhaut, die von Tausenden winziger Fältchen durchzogen war. Sie trugen einfache Kittel aus grobem, buntem Stoff, und ich hatte Schwierigkeiten, die Geschlechter voneinander zu unterscheiden.
Valcarenghi beugte sich zu mir herüber; vorsichtig darauf bedacht, seine Stimme gedämpft zu halten, flüsterte er: „Der Redner ist ein Bauer“, sagte er. „Er erzählt der Menge, welch weiten Weg er hinter sich gebracht hat, um hierherzukommen, und von den schweren Zeiten, die er im Lauf seines Lebens durchgemacht hat.“
Ich schaute mich um. Valcarenghis Flüstern war das einzige Geräusch in der Halle. Alle anderen waren totenstill, hielten die Blicke starr auf das Podium gerichtet, wagten kaum zu atmen. „Er sagt, daß er vier Brüder hat“, erzählte mir Valcarenghi. „Zwei sind die Letzte Vereinigung eingegangen, einer gehört zu den Gebundenen. Der letzte ist jünger als er, und ihm gehört jetzt der Hof.“ Er runzelte die Stirn. „Der Redner wird seinen Hof nie wiedersehen“, sagte er etwas lauter, „aber er ist glücklich darüber.“
„Schlechte Ernten?“ fragte Lya; sie lächelte respektlos. Sie hatte ebenfalls Valcarenghis Flüstern zugehört. Ich warf ihr einen strengen Blick zu.
Der Shkeen fuhr fort. Valcarenghi hinkte hinterher. „Jetzt erzählt er seine Sünden, all die Dinge, deren er sich schämt, seine schwärzesten Seelengeheimnisse. Manchmal hatte er eine scharfe Zunge, er ist eitel, einmal hat er sogar seinen jüngeren Bruder geschlagen. Jetzt spricht er von seiner Frau und von den anderen Frauen, die er gehabt hat. Er hat sie oft betrogen, hat oft mit anderen geschlafen. Als Junge hat er es mit Tieren getrieben, weil er vor Frauen Angst hatte. In den letzten Jahren ist er impotent geworden, und sein Bruder hat seine Frau zufriedengestellt.“
So ging es weiter und weiter, in unglaublichen Einzelheiten, Einzelheiten, die gleichermaßen erschütternd wie abstoßend waren. Keine Intimität blieb unerzählt, kein Geheimnis blieb ungelüftet. Ich stand da und hörte Valcarenghis Geflüster zu, anfangs schockiert, aber schließlich begann mich dieser ganze intime Dreck zu langweilen. Ich wurde unruhig. Ich überlegte mir kurz, ob ich irgendeinen Menschen auch nur halb so gut kannte wie jetzt diesen fetten alten Shkeen. Dann fragte ich mich, ob Lyanna mit ihrem Talent irgend jemanden halb so gut kannte. Es war fast so, als wolle der Redner uns alle hier und jetzt sein ganzes Leben nach vollziehen lassen.
Seine Beichte schien Stunden zu dauern, aber schließlich kam er zu einem Ende. „Er spricht jetzt von der Vereinigung“, wisperte Valcarenghi. „Er wird gebunden werden, er freut sich darüber, er hat sich so lange danach gesehnt. All sein Elend wird ein Ende haben, seine Einsamkeit hört auf, bald wird er durch die Straßen der heiligen Stadt wandeln und sein Glück mit den Glocken hinausläuten. Und dann – in einigen Jahren – die Letzte Vereinigung. Im Nachleben wird er mit seinen Brüdern vereint sein.“
„Nein, Dino.“ Dieses Flüstern kam von Laurie. „Hör auf damit, alles in menschliche Phrasen zu verpacken. Er sagt, er wird seine Brüder
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