Die zweite Stufe der Einsamkeit
sein. Die Redewendung drückt ebenso aus, daß seine Brüder er sein werden.“
Valcarenghi lächelte. „Gut, Laurie. Wenn du das sagst …“
Plötzlich war der dicke Bauer vom Podium verschwunden. Die Menge bewegte sich, und eine andere Person nahm den Platz des Bauers ein: viel kleiner, unsagbar verrunzelt, das eine Auge eine große, gähnende Höhle. Er begann zu sprechen, stockend zuerst, dann mit größerem Geschick.
„Der da ist ein Ziegelmann, er hat viele Kuppeln gebaut, er lebt in der heiligen Stadt. Sein Auge hat er vor vielen Jahren verloren, als er von einer Kuppel heruntergestürzt ist; er ist auf eine spitze Stange gefallen. Der Schmerz war sehr schlimm, aber er nahm seine Arbeit noch im gleichen Jahr wieder auf, er hat nicht um die vorzeitige Vereinigung gebeten, er war sehr tapfer, und er ist stolz auf seine Tapferkeit. Er hat eine Frau, aber sie hatten nie Kinder, darüber ist er traurig, er kann mit seiner Frau nicht mehr unbeschwert reden, sie sind einsam, selbst wenn sie zusammen sind, und sie weint in der Nacht, das betrübt ihn auch, und …“
So ging es wieder stundenlang weiter. Wieder überkam mich die Ruhelosigkeit, aber ich kämpfte sie nieder – dies hier war zu wichtig. Ich ließ mich in Valcarenghis Erzählung dahintreiben, verlor mich in der Lebensgeschichte des einäugigen Shkeen. Bald war ich von dieser Geschichte genauso gebannt wie die Aliens um mich herum. Es war heiß und stickig, und es gab alles, bloß keine Luft in diesem Dom, und meine Tunika begann, mir am Leib zu kleben, feucht von Schweiß, der zum Teil auch von den Wesen stammte, die sich rings um mich herum drängten. Aber das bemerkte ich kaum.
Der zweite Redner schloß ähnlich wie der erste mit einer langen Lobeshymne auf die Freuden des Gebundenseins und die Prophezeiung der Letzten Vereinigung. Gegen Ende war ich mir Valcarenghis Übersetzung kaum mehr bewußt – ich konnte das Glück in der Stimme des Shkeen hören, sah es seiner zitternden Gestalt an. Oder vielleicht habe ich gelesen, ohne es zu wissen. Aber auf eine solche Entfernung kann ich nicht lesen – es sei denn, der Betreffende strahlt ungeheuer starke Emotionen aus.
Ein dritter Redner erstieg das Podium und sprach mit einer Stimme, die lauter war als die der anderen. Valcarenghi hielt Schritt. „Eine Frau diesmal“, sagte er. „Sie hat ihrem Mann acht Kinder geboren, sie hat vier Schwestern und drei Brüder, sie hat ihr ganzes Leben lang auf dem Hof gearbeitet, sie …“
Plötzlich schien ihre Rede den Höhepunkt erreicht zu haben, und sie endete mit einem langen Satz mit mehreren scharfen, hohen Pfiffen. Dann verstummte sie. Die Menge begann wie ein einziges Wesen ihre Pfiffe zu beantworten. Eine unheimliche, hallende Melodie erfüllte die Große Halle, und die Shkeen rund um uns herum begannen sich zu wiegen und zu pfeifen. Die Frau stand schweigend da, in verkrampfter Haltung, und überblickte die Szenerie.
Valcarenghi begann zu übersetzen, stolperte jedoch über irgend etwas. Laurie fiel ein, bevor er sich wieder zurechtfand. „Sie hat ihnen gerade von einer furchtbaren Tragödie erzählt“, flüsterte sie. „Sie pfeifen, um ihren Kummer, ihr Einssein mit dem Schmerz der Frau auszudrücken.“
„Mitgefühl, ja“, sagte Valcarenghi und übernahm wieder. „Als sie noch jung war, wurde ihr Bruder krank und schien dem Tod nahe zu sein. Ihre Eltern gaben ihr die Weisung, ihn in die heiligen Hügel zu bringen, da sie selbst die jüngeren Kinder nicht allein lassen konnten. Aber ein Rad des Karrens brach, weil sie unvorsichtig gefahren war, und ihr Bruder starb in den Ebenen. Er ging ohne Vereinigung zugrunde. Deshalb macht sie sich Vorwürfe.“
Die Shkeen hatte wieder zu sprechen begonnen. Laurie begann zu übersetzen, zu uns herübergebeugt und mit einem leisen Flüstern. „Ihr Bruder ist gestorben, sagt sie jetzt wieder. Sie hat ihn im Stich gelassen, hat ihn der Vereinigung beraubt, jetzt ist er verloren und allein und tot … ohne … ohne …“
„Nachleben“, sagte Valcarenghi. „Ohne Nachleben.“
„Ich bin nicht sicher, ob das in diesem Fall richtig ist“, sagte Laurie. „Dieser Begriff ist …“
Valcarenghi winkte ab. „Hört zu“, sagte er. Er fuhr mit der Übersetzung fort.
Wir lauschten ihrer Geschichte, erzählt in Valcarenghis zunehmend heiserem Flüsterton. Sie sprach am längsten von allen, und ihre Geschichte war die schrecklichste der drei. Als sie geendet hatte, folgte ein neuer Redner. Aber
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