Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
er, aber er ist nie erwachsen geworden. Im Gegensatz zu mir, ich bin schon erwachsen auf die Welt gekommen.«
Jill lächelte. Wegen solcher Sätze liebte sie Sam. Von Anfang an hatte sie sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt. Ein Endokrinologe, den beide kannten, hatte ein Blind Date arrangiert. Der Freund glaubte, dass der Bücherwurm Jill und der Akademiker Sam gut zusammenpassen würden. Nie hatte Jill bei einem Mann mehr sie selbst sein können als bei Sam, Gray vielleicht ausgenommen. Sie rutschte zu ihm hinüber und legte den Kopf an seine Brust. Sein baumwollenes T-Shirt fühlte sich weich an, das aufgebügelte Logo der Uni war kaum zu spüren.
»Bequem?« Sam umarmte sie.
»Wunderbar.« Jill hörte sein Herz schlagen. Seit Grays Tod hörte sie vor allem auf die Intervalle zwischen den Schlägen. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht, weil sie Ärztin war? Oder Witwe? Oder beides? Die kleinen Pausen entschieden oft über Leben und Tod.
»Es wird schon alles wieder gut werden«, sagte Sam, als hätte er Jills Gedanken erraten.
»Woher willst du das wissen? Hast du Beweise?«
»Ist deine Frage ernst gemeint?«
»Ja. Schließlich bist du der Wissenschaftler. Für dich zählen nur Fakten.«
»Also gut.« Sam drückte sie fest an sich. »Das ist der Beweis. Er ist ziemlich eindeutig, oder?«
Jill lächelte unsicher, aber dann begriff sie, was er meinte. Sam und sie waren glücklich, sie liebten einander. Die Liebe zwischen ihnen war langsam gewachsen. Sie verstanden und schätzten einander, und Sam war ihr bester Freund, wie sie seine beste Freundin war. Ihre Kinder waren schon groß. Sie hatten ein erfülltes Leben.
Im Schlafzimmer war es still und ruhig. Die Dunkelheit umhüllte sie wie schwarzer Samt, eine sanfte Brise bewegte die Vorhänge, die Nachwehen des Sturms. Von der Küche drang das Brummen des Geschirrspülers zu ihnen herauf, der Alarm gegen Einbrecher war eingeschaltet. Die hübsche Straße, in der sie wohnten, wurde von Eichen gesäumt, sie und Sam lebten in einem Vorort von Philadelphia, der so aussah wie alle anderen Vororte der Welt auch.
»Siehst du?« Sam zog sie noch einmal an sich.
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch. Mich wirst du nicht mehr los. Nie mehr.«
»Du mich auch nicht.«
»Dann lass uns jetzt schlafen.« Sam stieß einen Seufzer aus, dann spürte Jill, wie seine Umarmung sich sanft löste und er sich im nächsten Moment umdrehte. Nachdenklich zog sie die Decke hoch. Als sie zwanzig war und Gray ihr versprach, sie für alle Zeiten zu lieben, da hatte sie ihm geglaubt. Auch als sie dreißig war und William ihr das Gleiche versprach, glaubte sie ihm noch. Jetzt aber wusste sie, dass eine Liebe nicht unbedingt ein Leben lang halten musste. Schon morgen konnte alles vorbei sein.
Sie schloss die Augen, die Zeit schien stillzustehen. Die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart war aufgehoben worden: Heute Nacht schlief Abby in einem Zimmer in ihrem Haus. Abby und Victoria gehörten ihrer Vergangenheit, ihrem früheren Leben an – das hatte Jill jedenfalls bisher geglaubt. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht legte sich das Vergangene nur auf das Heute wie Transparentpapier. Abby und Victoria hatten ihr Leben nie verlassen, vielleicht hatten sie die ganze Zeit wie Geister über ihr geschwebt. Hatten gehofft, dass sie sie endlich wieder bemerken würde.
Sollte sie ein drittes Mal heiraten? Sie und Megan wollten nicht noch einmal enttäuscht werden. Diesmal, mit Sam, musste es einfach klappen. Er war die letzte große Liebe ihres Lebens. Kurz entschlossen zog sie T-Shirt und Slip aus und presste ihren nackten Körper gegen Sams Rücken. Seine Körperwärme durchdrang ihre Brüste. Ihre Hände fanden seine Hüfte. Sie küsste ihn am Hals und hinter dem Ohr, dort, wo kein Rasierapparat hinkam.
»Schatz?« Die Frage musste nicht beantwortet werden. Sam drehte sich auf den Rücken, während sie sich auf ihn legte und ihn küsste. Er roch nach Zahnpasta. Sie zog ihm T-Shirt und Boxershorts aus, sodass sie beide nackt waren. Alle Rollen, in die sie im Leben schlüpften, waren jetzt abgelegt. Alle Identitäten hatten ihre Bedeutung verloren. Sie waren nur noch sie selbst. Nackte Haut auf nackter Haut. Jill war keine Ärztin und Mutter mehr, sie war nur noch eine Frau, und das war für sie mehr als genug.
5
»Mom!« Megans Stimme wurde lauter. »Mom! Abby ist hier. Was ist passiert? Mom!«
Jill wurde von einer erstaunten Megan wachgerüttelt. Im
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