Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Schluchzen war zu hören, dann begann Megan laut zu weinen.
»Mom!« Ihre Stimme drohte zu versagen. »Ich brauche dich.«
»Natürlich, Schatz.« Jill war schon auf dem Weg.
6
Abby schlief zusammengerollt im Bett. Leise und vorsichtig gingen Jill und Megan durchs Schlafzimmer, die Sporttasche musste gepackt werden. Megan schien jetzt schwach und kraftlos, sie hatte sich von ihrem Weinkrampf noch nicht erholt.
»Megan«, flüsterte Jill ihr zu, »hast du schon etwas gegessen? Wie wäre es mit einem Müsliriegel? Oder einem Joghurt?«
»Nein. Sonst wird es zu spät.« Megan durchwühlte ihre Kommode. Draußen wurde es langsam hell. »Wo ist meine neue Trainingshose?«
»Im Wäschekorb.« Jill war noch nicht zum Waschen gekommen. »Ich werfe sie heute Abend in die Maschine.«
»Okay.« Megan entschied sich für ihre bequemste Trainingshose als Alternative, verstaute sie in der Sporttasche und verschwand ins Badezimmer. »Wie sieht es denn hier aus?«, murmelte sie. Handtücher und Shampooflaschen lagen auf dem Boden verstreut.
»Abby war wohl ganz schön durcheinander.« Megan packte Shampoo und eine Haarspülung in ihre Tasche. »Mist, jetzt haben wir sie auch noch aufgeweckt.«
Abby setzte sich im Bett auf und strich sich ihr langes Haar nach hinten. Megan ging zu ihr.
»Es tut mir so leid, Abby.« Die beiden Stiefschwestern umarmten sich weinend wie die beiden Hälften eines gebrochenen Herzens.
Jill stand etwas abseits mit zugeschnürter Kehle. Die Szene stimmte sie glücklich und traurig zugleich. Es war schön, die beiden wieder vereint zu sehen, aber der Anlass … Wie oft hatten die Schwestern einander getröstet. Als Megan eines Tages eine Sprechrolle in einem Thea terstück nicht bekommen hatte, war sie von Abby mit einem Becher Vanilleeis und einer selbst zusammengestellten Musikkassette wieder aufgeheitert worden, der sie den schönen Namen I Will Survive gegeben hatte. Und als Abby einmal von einer Klassenkameradin wegen ihrer mäßigen College-Noten gehänselt worden war, hatte Megan sie in ein Eiscafé mitgenommen und von dem Geld eingeladen, das sie mit Babysitten verdient hatte. »Eis hilft in allen Lebenslagen«, hatte Megan verkündet, dann hatten beide gelacht. Nicht so wie heute Morgen.
»Es ist so schrecklich, und es tut mir so leid für dich. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Danke, Megs.« Abby zog die Nase hoch. »Was bin ich doch für eine Heulsuse.«
»Mein Gott, es geht hier um deinen Vater.« Megans Lippen zitterten.
»Jill war so nett zu mir.« Abby schluchzte. »Und danke, dass ich das Nachthemd tragen durfte. Es war mal meins, erinnerst du dich?«
»Natürlich.« Megan versuchte ein Lächeln. »Ich trage es noch immer. Der Stoff wird immer weicher.«
Auch Abby versuchte zu lächeln. »Du siehst gut aus, richtig schlank bist du geworden. Da kann man dich gar nicht mehr ›Mega‹ rufen.«
Megan musste über ihren alten Spitznamen lachen.
»Und eine Zahnspange hast du auch?«
»Ja, mein Gebiss hat sich verschoben. Zwei Jahre muss ich das Ding noch tragen, aber jetzt muss ich gehen. Ich habe Training.«
»Schon okay. Das Training am frühen Morgen habe ich immer gehasst.« Abby rieb sich die Stirn. Sie sah blass aus. »Mein Gott, geht’s mir beschissen. Mir brummt der Schädel.«
»Hallo, Mädels.« Sam stand im Morgenmantel in der Tür. »Wie wär’s mit Bananenpfannkuchen? Abby, magst du meine Spezialität mal testen?«
»Lieber nicht. Mir ist so schlecht.« Kaum hatte Abby den Satz beendet, übergab sie sich auch schon. Megan wich zurück, Sam wurde bleich.
»Hier, mein Schatz.« Jill griff nach einem Abfalleimer, aber da hatte Abby sich schon wieder erbrochen, erneut auf die Bettwäsche.
»Entschuldigung.«
»Komm, mein Schatz, wir gehen jetzt mal ins Badezimmer.« Jill stellte den Abfalleimer ab, fasste Abby am Arm, zog sie aus dem Bett und führte sie ins Badezimmer, wo Abby sich auf die herumliegenden Handtücher und das Nachthemd ein weiteres Mal erbrach. Vor der Toilette kniete sie sich nieder.
»Mom, ich komme zu spät!«, rief Megan aus dem Schlafzimmer. »Abby, ich muss leider gehen.«
»Warte!«, rief Jill zurück. Sie war hin- und hergerissen. Sie wollte Megan noch einmal umarmen, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging, andererseits konnte sie Abby in dieser Situation nicht allein lassen. Beide Mädchen brauchten sie. »Warte noch einen Augenblick. Ich will mich von dir verabschieden.«
»Aber Mom, ich bin schon zu spät dran.
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