Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
ein Mensch wirklich an erlittenem Leid wachsen konnte, musste erst noch bewiesen werden.
»Schatz?«
Jill erschrak. Sam hatte sich im Bett aufgerichtet und blinzelte ins helle Lampenlicht. Er runzelte die Stirn, auf seiner feinen Nase zeichneten sich noch immer Spuren seiner Brille ab. »Alles in Ordnung?«
»Natürlich.« Jill schloss den Ordner mit den Fotos.
»Was machst du?« Sam legte sich wieder hin, seine Augen leuchteten wie ein Meer ohne Wellen in einem stillen Blau. Unaufgeregt sah er sie an. »Kannst du wegen William nicht schlafen? Oder ist es wegen Abby?«
»Wegen beiden. Aber eigentlich habe ich über mein Leben nachgedacht.«
»Worüber genau?«
»Ach, es ist so viel passiert.« Jill fühlte sich seltsamerweise verlegen. »Ich habe eine Menge erlebt.«
»Ich noch viel mehr.« Sam schmunzelte.
»Aber meine Vergangenheit ist viel chaotischer als deine. Zwei Hochzeiten, zwei ehemalige Stieftöchter. Wenn das kein Durcheinander ist. Hab ich das ganz allein angerichtet?«
»Nein, so läuft das Leben. Ganz einfach.« Sam lächelte. »Und das ist es also, was dich quält? Ich hatte schon befürchtet, dass du das Internet nach Temezepam durchforstest.«
Jill hatte es tatsächlich in Erwägung gezogen. »Ich habe Mitleid mit der Kleinen.«
»Das weiß ich.«
»Die Geschichte mit den Tabletten kommt mir komisch vor. Sie passt nicht zu William.«
»Du hattest die letzten Jahre keinen Kontakt zu ihm. Er kann sich verändert haben.«
»Das stimmt.«
»Und was schließt du daraus?« Sam zog die Augenbrauen hoch. »Wenn man die Mittel in seinem Körper gefunden hat, dann wird er sie auch eingenommen haben.«
»Temezepam ist eine Kapsel. Das Mittel lässt sich in einem Getränk leicht auflösen.« Jill behandelte in ihrer Praxis auch Teenager, die tablettensüchtig waren.
»Du glaubst, jemand hat ihm das Zeug in einem Getränk untergejubelt? Das hätte er doch geschmeckt.« Sam fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wenn du Abby wirklich helfen willst, sage ich Sandy Bescheid. Sie ist die beste Psychiaterin in der Stadt, und ich hab noch einen Gefallen bei ihr gut.«
»Wahrscheinlich hast du recht.« Jill war dankbar für seine Reaktion. »Aber nach der Arbeit werden wir trotzdem zum Gedenkgottesdienst gehen. Abby hat Williams Leiche gefunden. Ich kann sie morgen einfach nicht allein lassen.«
Sam schürzte die Lippen. »Und Megan?«
»Sie wird uns begleiten wollen.«
»Bist du dir sicher?«
»Vollkommen.« Jill fühlte sich bei der Antwort unbehaglich.
»Aber Megan ist erst dreizehn. Ich zweifle, ob das das Richtige für sie ist.«
»Ich denke schon.«
»Dann geht eben.« Als Sam mit den Achseln zuckte, berührte Jill ihn am Arm.
»Bist du sauer, dass sie dich nicht eingeladen hat? Aber sie kennt dich doch kaum.«
»Ich bin nicht sauer. Egal, wie ihr euch entscheidet, ich bin damit einverstanden.«
Jill gab ihm einen Kuss.
»Es ist spät.« Sam lächelte zärtlich. »Lass uns schlafen.«
Jill klappte den Laptop zu, schob einen Stapel mit Büchern beiseite, den sie noch lesen musste, und stellte den Computer auf den überfüllten Nachttisch. Neben einer Dose Feuchtigkeitscreme lagen ihre beiden goldenen Creolen. Ineinander verschränkt sahen sie aus wie ein Mengendiagramm in einem Mathebuch. Die Mathematik! Allen drei Mädchen hatte sie in Mathe geholfen. Vor allem mit Abby hatte sie stundenlang am Küchentisch gesessen und Aufgaben gerechnet. Dazu hatten sie Schokoladenbonbons gegessen. Am Ende der Mittelschulzeit konnten beide keine Schokoladenbonbons mehr sehen.
Ich werde Geometrie nie verstehen!
»Ich werde nicht herummeckern.«
»Was?«, fragte Jill verwirrt. Sam hatte sie aus ihren Gedanken gerissen.
»Vertrau mir.«
»Das tue ich.« Jill lächelte. Bevor sie die Nachttischlampe ausschaltete, hob Beef noch einmal bettelnd den Kopf. Seine Augen waren an den Rändern trüb. Der Hund war länger als Sam Teil ihres Lebens, sie konnte es sich nicht vorstellen, ihn zu verlieren. Sie tätschelte sein umfangreiches Hinterteil. »Beef wird auch mitkommen.«
»Ich habe nichts dagegen. Ich dachte, du hättest.«
»Ich habe meine Meinung eben geändert. Wenn er Leute anspringt, müssen sie damit zurechtkommen. Er gehört zur Familie.«
»Dann sei es so.« Sam lächelte und zog die Decke fester um sich. »Er könnte mein Trauzeuge sein. Immerhin sieht er besser aus als Mort.«
»Komm schon, Mort ist ein netter Typ.« Auch Jill kroch unter die Decke, die sich kalt anfühlte.
»Das ist
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