Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Abby, keine Victoria, kein Patient hatte sich gemeldet, auf dem Band waren nur Nachrichten von Menschen, die ihr telefonisch etwas verkaufen wollten. Sie legte auf und ging zu ihrem Laptop. Immerhin hatte sie zwei Mails von Patienten bekommen, die sie aber nicht sofort beantworten musste. Rahuls Untersuchungsergebnisse waren noch immer nicht da, was sie beunruhigte. Morgen würde Padma mit dem Kleinen wieder vorbeikommen.
Sie war verunsichert, wie Sam bei ihrem Wiedersehen reagieren würde. Was würde er zu Williams Doppelleben sagen? Wie sollte sie ihm überhaupt davon berichten? Seit ihrem ersten Date vor vielen Jahren hatte sie sich nicht mehr so unbehaglich vor einem Treffen mit ihm gefühlt. Sie ging die Treppe hoch und dachte an ihre erste Begegnung mit ihm zurück. Obwohl sie damals ein schreckliches Blind Date nach dem anderen gehabt hatte – vom schweren Trinker über Kerle, die ihre Ex noch liebten, bis hin zu Typen, die gleich am ersten Abend mit ihr ins Bett steigen wollten, war alles dabei gewesen –, hatte sie doch die Bereitschaft gespürt, sich auf ein neues Abenteuer einzulassen. Sam saß schon am Tisch, als sie das Restaurant betrat. Wie verabredet trug er eine karierte Krawatte und las in einem Buch, was sie etwas optimistisch stimmte.
Entschuldigung, ich habe mich verspätet, sagte sie reflexartig und streckte ihm wie bei einem Vorstellungsgespräch die Hand entgegen.
Sam stand auf und gab ihr seine. Sie sind nicht zu spät, ich bin zu früh. Ich bin immer zu früh.
Sie nahm umständlich Platz und lächelte. Dann fiel ihr Blick auf das Buch, das er las. Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt. Ich liebe dieses Buch.
Ich auch. Ich lese es schon zum zweiten Mal. Es ist schön geschrieben und erinnert mich daran, wie gut ich es habe und wie viel ein Mensch ertragen kann, wenn er überleben will.
Jill empfand das Gleiche, behielt es aber für sich. Sie wollte nicht anbiedernd klingen. Sie sind also Diabetes-Forscher? Das hört sich interessant an.
Sam klappte das Buch zu und legte es beiseite. Danke, aber ich gestehe der Krankheit noch nicht einmal das Recht zu, in meiner Berufsbezeichnung genannt zu werden.
Und welche wäre dann die richtige?, fragte sie verlegen.
Ich bin kein Diabetes-Forscher, sondern erforsche die Menschen. Ich möchte ihnen helfen, dass sie aus eigener Kraft die Krankheit besiegen können. Sie sollen wieder glücklich werden. Alle Menschen haben das verdient.
Jill nickte. So steht es auch in dem Buch.
Stimmt. Er grinste. War mir bisher noch gar nicht aufgefallen.
Sie lächelte, das Kompliment war angekommen. Deshalb lese ich so gern. Bücher bringen uns die Dinge nah.
Und die Menschen auch. Sam lachte. Entschuldigung. Ich hoffe, das war nicht zu aufdringlich.
Nein, keineswegs. Jill spürte eine gewisse Unruhe in sich, ihr fremdes Gegenüber hatte wohl ein kleines Feuer in ihr entfacht. Sie bekam Lust, Sam näher kennenzulernen, was sie dann auch tat. Sie verliebte sich in ihn, und es entwickelte sich zwischen ihnen eine Liebe, die, so hoffte sie, nie enden würde.
Jill stand in der Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Sam packte seinen schwarzen Reisekoffer, der aufgeschlagen wie ein dickes Buch auf dem Bett lag. Sie registrierte sofort die gefalteten Hemden und Hosen. »Was tust du da?«, fragte sie. Ihr Mund war trocken.
»Ich fahre nach Cleveland.« Sam sah zu ihr auf. Seine Augen schienen hinter der Brille weit weg. »Lee ist kurz davor durchzudrehen. Ich muss ihm bei der Präsentation seiner Arbeit helfen.«
»Oh.« Jill wusste nicht, was sie erwidern sollte. »Also wegen einer Tagung? Wann kommst du wieder? Morgen, übermorgen?«
»Nein.« Sam hob einen Turnschuh vom Fußboden auf, entdeckte den zweiten unter dem Bett und verstaute beide sorgfältig im Koffer. »Ich denke, ich werde noch einen Besuch bei Steve ranhängen.«
»Aber wir wollten ihn doch am Wochenende gemeinsam besuchen.«
»Sei mal ehrlich.« Sam hielt in der Bewegung inne und sah ihr in die Augen. »Solange Abby nicht wieder da ist, wirst du nicht nach Austin fahren. Das wissen wir doch beide. Und da du dich heute nicht gemeldet hast, gehe ich davon aus, dass du noch immer nicht weißt, wo sie sich aufhält. Habe ich recht?«
»Ja. Solange sie nicht wieder da ist, wäre es tatsächlich schwierig für mich…«
»Genau das habe ich mir schon gedacht. Warum also sollte ich nur für eine Nacht nach Hause fliegen?« Sam zog das Schuhnetz zu. »Megan ist bei Courtney. Sie hat dich
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