Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
begleitet.«
»Selbst die Polizisten müssen auf dem Flur warten, während mein Chef die Wohnung untersucht.«
»Ist Ivan Ihr Chef?«
»Ja.« Mike schmunzelte. »Sie haben ihn vorhin derart mit Fragen bombardiert, ein Wunder, dass er Sie nicht geohrfeigt hat.«
Jill prustete los. »Ich kenne Chefärzte, die sind weniger von sich überzeugt als Ivan.«
Mike lachte. »Ich glaube, er liebt Sie auch nicht gerade.«
»Was ich verschmerzen kann. Ivan sollte sich mit Sheryl, meinem Boss, zusammentun.«
»Sie sind doch Ärztin.« Mike neigte den Kopf. »Sie brauchen keinen Boss.«
»Meine Meinung. Sie kennen die Wohnung oben, oder?«
»Ja.«
»Wie sieht sie aus?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Sie haben mich eh schon in Teufels Küche gebracht.«
Jill errötete leicht. »Ich kann Ivan einen Brief schreiben und mich entschuldigen.«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen. Es ist gut, wenn mal ein bisschen Leben in die Bude kommt. Sonst schlafen wir hier alle noch ein.«
»Was machen die nur so lange?« Jill ließ sich auf eine gepolsterte Bank fallen, ihre Angst verbarg sie, so gut es ging. Ohne ihr Handy fühlte sie sich von der Welt abgeschnitten. Ob Abby oder Victoria sie angerufen hatten? Ob Sam noch im Labor war oder wieder zu Hause? Ob Megan eine neue Panikattacke gehabt hatte? Ob die Ergebnisse von Rahuls Bluttest eingetroffen waren? Jill stand auf und begann wieder auf und ab zu gehen.
»Da sind sie.« Mike erhob sich, während Jill schon zum Aufzug ging, dessen Türen sich gerade öffneten. Ivan, Officer Mulvane und sein redseliger junger Kollege Yokimura traten in die Halle.
»Und?«, fragte Jill, und Officer Mulvane lächelte.
»Ihre Tochter ist nicht oben. Auch sonst haben wir nichts Beunruhigendes gefunden. Eine sehr gepflegte Wohnung. Alles picobello.«
»Und weiter?«
»Es ist eine typische Männerwohnung.«
»Eine typische Männerwohnung eines reichen Mannes«, ergänzte Officer Yokimura.
Mulvane ließ die Bemerkung seines Kollegen unkommentiert. »Ivan hat sich in allen Räumen umgesehen und all unsere Fragen beantwortet. Nichts Verdächtiges, alles sauber. Im Kühlschrank nur Bier und Mineralwasser. Ein Zeitungsstapel und ein paar Rechnungen auf dem Schreibtisch.«
»An wen sind die Rechnungen adressiert?«
»An Neil Straub.«
»An niemand anderen?«
»Nein.«
»Nicht an eine Firma?«, fragte Jill.
»Ivan ist nichts aufgefallen.«
»Die neueste Zeitung, von wann ist sie?«
»Von vorigem Montag.«
Jill war enttäuscht. Frustriert wandte sie sich an den Hausmeister, der zum Empfangstresen ging. »Was wissen Sie über Mr. Straub? Was steht über ihn in Ihren Akten? Wer ist sein Vermieter?«
»Keine Auskunft.« Ivan kniff seine dünnen Lippen zusammen. Er hatte traurige dunkle Augen. Sein drahtiger Körper wirkte in dem blauen Overall verloren. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, verhalte ich mich nur so, wie die Genossenschaft es mir vorschreibt. Ohne richterliche Anordnung läuft hier gar nichts.«
»Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass eine Frau bei ihm gewohnt hat? Kosmetik im Badezimmer? Oder Schmuck? Er soll eine junge blonde Freundin haben.«
Officer Yokimura grinste. »Nichts ist schlimmer als die Wut einer verschmähten Frau.«
Jill wandte sich an Mulvane. »Antworten Sie.«
»Ivan hat tatsächlich ein paar Dinge in der Art entdeckt. Im Wandschrank hingen Frauenkleider.« Der Beamte ging zu dem Portier. »Mike, wie gelangt die Post nach oben?«
»Wenn der Wohnungsinhaber verreist ist, bringen wir die Post alle paar Tage nach oben. Damit die Briefkästen nicht überquellen. Mr. Straub ist oft sehr lange unterwegs. Ungefähr ein Zehntel der Leute, die hier wohnen, ist fast nie da. Die haben Zweit- oder Drittwohnungen in Florida oder im Ausland. Aber unser Service genügt höchsten Ansprüchen. Wenn jemand verreist ist, wischen wir Staub für ihn und gießen seine Pflanzen.«
Officer Yokimura lächelte. »Klingt gut.«
»Wann haben Sie Mr. Straub das letzte Mal gesehen?«, fragte Officer Mulvane.
Mike sah im Empfangsbuch nach. »Letzten Montag. Er hat um zwanzig nach zehn Uhr morgens das Haus verlassen. Ich habe Enrique vertreten.«
Jill spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Montag war der Tag vor Williams Tod gewesen. Also würde Neil Straub nie wieder zurückkommen, weil William Skyler am Dienstag voriger Woche verstorben war. »War er allein?«
Mike überlegte.
»War er allein?«, wiederholte Mulvane.
»Ja.«
Der Officer klopfte zum Abschied auf den Tisch.
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