Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
seufzte. »Chade, dazu lässt sich die Gabe nicht gebrauchen. Sie …«
»Sag lieber, dass man dich nie gelehrt hat, die Gabe zu diesem Zweck zu gebrauchen. In den Schriften steht es, Fitz. Dort steht, dass zwei, die durch die Gabe verbunden sind, damit einen dritten aufzuspüren vermögen. Alle meine anderen Bemühungen, den Prinzen zu finden, sind erfolglos geblieben. Hunde liefen den halben Vormittag eifrig auf seiner Spur, dann rannten sie winselnd im Kreis herum und wussten nicht mehr weiter. Meine besten Spione haben nichts zu berichten, Bestechungen brachten kein Ergebnis. Die Gabe ist das einzige Mittel, welches mir noch bleibt.«
Meine Neugier war geweckt, aber ich beherrschte mich. Ich wollte die Schriftrollen nicht sehen. »Selbst wenn dort geschrieben steht, dass es möglich ist, dann geschieht es doch, wie du sagst, zwischen zwei Personen, die durch die Gabe verbunden sind. Der Prinz und ich haben keine solche …«
»Ich glaube doch.«
Er sagte es in diesem ganz besonderen Ton, der ausdrückt, dass er mehr weiß, als man annimmt und davor warnt, ihm Lügen auftischen zu wollen. Dieser Ton wirkte unfehlbar dem kleinen Junge gegenüber, und ich muss zugeben, es war einigermaßen bestürzend, feststellen zu müssen, dass er auch bei dem erwachsenen Mann seine Wirkung nicht verfehlte. Ich öffnete den Mund, doch er antwortete schon, bevor ich die Frage aussprechen konnte.
»Manche Träume, von denen der Prinz mir erzählte, erregten meinen Verdacht. Es begann mit gelegentlichen Nachtgeschichten in seiner Kindheit. Er träumte von einem Wolf, der ein Reh niederwarf und einem Mann, der herbeieilte, um dem Tier den Gnadenstoß zu geben. In diesem Traum war er der Mann, doch konnte er den Mann auch sehen. Jenen ersten Traum fand er überaus aufregend. Tagelang redete von fast nichts anderem und schilderte den Vorfall wie etwas, das er selbst getan hatte.« Chade machte eine Pause. »Pflichtgetreu war damals erst fünf Jahre alt. Die Einzelheiten des Traums gingen weit über seine eigenen Erfahrungen hinaus.«
Ich schwieg weiter.
»Jahre vergingen, bis er einen ähnlichen Traum hatte. Oder vielleicht sollte ich sagen, es dauerte Jahre, bis er mir wieder von einem erzählte. Ihm träumte von einem Mann, der einen Fluss durchfurtete. Die Fluten drohten, ihn mitzureißen, doch endlich gelang es ihm, das andere Ufer zu erreichen. Er war durchnässt und zu verfroren, um ein Feuer zu machen und sich zu trocknen und die Kälte aus den Gliedern zu treiben, so legte er sich einfach auf die Erde, im Schutz eines umgestürzten Baums. Dann kam ein Wolf, der ihn wärmte. Und wieder erzählte der Prinz das Geschehnis, als hätte er selbst es erlebt. ›Es ist wunderbar‹, sagte er mir, ›als hätte ich noch ein zweites Leben, weit weg von hier und frei von den Verpflichtungen eines Prinzen. Ein Leben, das nur mir gehört und wo ich einen Freund habe, der mir so nahe ist wie meine eigene Haut.‹ Das brachte mich zu der Vermutung, dass er noch mehr dieser Träume gehabt haben musste, ohne mir davon zu berichten.«
Er wartete, und diesmal raffte ich mich auf, mein Schweigen zu brechen.
»Falls ich diese Augenblicke meines Lebens mit dem Prinzen geteilt habe, war ich mir dessen nicht bewusst. Aber ja, es stimmt, diese Ereignisse hat es wirklich gegeben.« Mir wurde flau bei der Vorstellung, welche Momente er noch miterlebt haben mochte. Veritas’ Tadel fiel mir ein, dass ich meine Gedanken nicht zu hüten wüsste und meine Träume und Erfahrungen störend in sein Bewusstsein drängten. Ich dachte an mein Beisammensein mit Merle und hoffte, dass ich nicht errötete. Ich hatte mir schon lange nicht mehr die Mühe gemacht, mich abzuschirmen. Offensichtlich war es geraten, wieder damit anzufangen. Dieser Gedanke zog einen anderen nach sich. Anscheinend war mein Gabentalent keineswegs so stark gemindert, wie ich gedacht hatte. Heiße Freude sprudelte in mir hoch. So etwa, sagte ich mir spöttisch, muss sich der Säufer fühlen, der unter dem Bett eine vergessene, noch volle Flasche entdeckt.
»Und hast du deinerseits Momente aus des Prinzen Leben miterlebt?«, wollte Chade wissen.
»Kann sein. Wahrscheinlich. Ich habe oft lebhafte Träume, und zu träumen, ich wäre ein Junge in Bocksburg ist nicht weit entfernt von meinen eigenen Erinnerungen. Aber …« Ich zwang mich weiterzusprechen. »Das, worauf es ankommt, ist die Katze, Chade. Wie lange hat er sie schon? Glaubst du, er verfügt über die Alte Macht? Ist er mit
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