Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
ist Opfer für sein Volk.
BEDELS ›KöNIGIN AUS DEM HOHEN REICH‹
Die Nacht ebbte dem Morgen entgegen, ehe ich die geheime Treppe hinunterstieg, um mein Bett aufzusuchen. In meinem Kopf schwirrten Fakten, von denen mir nur wenige in mein Mosaik zu passen schienen. Schlaf, das war es, was ich jetzt brauchte, eine Schonzeit für mein Gehirn, um Ordnung in das Chaos zu bringen.
Ich kam zu dem Paneel, das den geheimen Zugang zu meinem Zimmer darstellte, und blieb stehen. Chade hatte mich sämtliche Vorsichtsmaßnahmen gelehrt, die man in diesen Gängen beachten sollte. Mit angehaltenem Atem lugte ich durch den haarfeinen Ritz zwischen Stein und Stein. Man sah einen schmalen Ausschnitt der Kammer, den Tisch mit einer brennenden Kerze darauf. Ich lauschte, doch es war kein Geräusch zu hören. Behutsam löste ich den Hebel, der bewirkte, dass unsichtbare Gegengewichte sich senkten. Die Tür schwang auf, und ich schlüpfte in meine Dienstbotenkammer. Auf einen leichten Druck meiner Hand glitt die Steintafel zurück und verschloss die Öffnung. Ich starrte auf die blanke Mauer. Die Tür war so unsichtbar wie zuvor.
Mein Herr hatte daran gedacht, die schmale Pritsche in dem stickigen kleinen Gelass mit zwei kratzigen Wolldecken auszustatten, dennoch sah sie auch für jemanden, der zum Umfallen müde war wie ich, wenig einladend aus. Ich könnte ins Turmzimmer zurückkehren und mich in Chades pompöses Bett legen. Er benutzte es nicht mehr. Bei genauerer Betrachtung jedoch vermochte auch diese Vorstellung mich nicht zu locken. Benutzt oder nicht, das Bett dort oben war Chades Schlafstatt. Das Turmgemach, die Landkarten und die Stellagen mit Schriftrollen, die Giftküche und die beiden Kamine: All das gehörte Chade, und ich hatte nicht den Wunsch, als sein Nachfolger dort einzuziehen. Dies hier war besser. Das harte Bett und die triste Kammer waren die versöhnliche Erinnerung daran, dass meines Bleibens hier nicht ewig sein sollte. Schon nach einem einzigen Abend voller Geheimnisse und Intrigen war ich des politischen Lebens in Bocksburg herzlich überdrüssig.
Mein Packen und Veritas Schwert lagen auf der Pritsche. Ich warf den Rucksack auf den Boden, lehnte das Schwert in eine Ecke, beförderte das Häufchen meiner abgelegten Kleidung mit einem Fußtritt unter den Tisch, blies die Kerze aus und tastete mich zum Bett. Pflichtgetreu und die Alte Macht und alles, was damit zusammenhing, sollte warten bis morgen.
Ich rechnete damit, auf der Stelle einzuschlafen, stattdessen lag ich auf dem Rücken und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Eigene Sorgen kamen und nagten an mir. Mein Ziehsohn und mein Wolf lagerten heute im Freien, an der Straße nach Bocksburg. Welch ein Gegensatz zu früher, dass ich heute darauf zählte, dass Harm für den alten Wolf sorgte, der immer sein Beschützer gewesen war. Er hatte seinen Bogen und verstand, damit umzugehen. Die beiden konnten auf sich aufpassen. Außer sie wurden von Straßenräubern überfallen. Wenn Harm sich nicht kampflos ergab, sondern einen, vielleicht zwei erledigte, würde das deren Kumpane umso wütender machen. Und Nachtauge würde bis zum Tode kämpfen, ehe er zuließ, dass man Harm etwas antat. Vor meinem inneren Auge sah ich Nachtauge erschlagen im Staub liegen und meinen Ziehsohn in den Händen von rachedurstigen Wegelagerern. Und ich zu weit entfernt, um ihnen beistehen zu können.
Wolldecken jucken unerträglich auf schweißfeuchter Haut. Ich warf mich herum, starrte auf einen anderen Fleck Schwärze. Sinnlose Selbstquälerei, sich Katastrophen auszumalen, während die beiden vermutlich friedlich schlummerten. Widerwillig richtete ich meine Gedanken auf Chades Gabenschriften und das Rätsel des verschwundenen Prinzen. Ich hatte mit drei oder vier Schriftrollen gerechnet; doch was Chade mir zeigte, waren mehrere Truhen mit Pergamenten in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Auch er hatte sie noch nicht alle studiert, meinte aber, es sei ihm gelungen, sie grob nach Themen und Schwierigkeitsgrad zu ordnen. Er führte mich zu einem großen Tisch, auf dem drei geöffnete Rollen lagen. Mir sank der Mut. Die altertümliche Schrift auf zweien der Pergamente konnte ich nur mit Mühe entziffern. Die dritte schien jüngeren Datums zu sein, doch schon nach wenigen Zeilen stolperte ich über Worte und Termini, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Eine ›antikulare Trance‹ wurde empfohlen und unter anderem ein stimulierender Aufguss aus einem Kraut namens
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