Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
und endlich begriff ich das Ausmaß ihrer Seelenqual. Ich zog einen Stuhl für sie heraus und als sie sich hinsetzte, schaute ich ihr fest ins Gesicht und sagte so ruhig, wie ich selbst nicht war: »Vorläufig glaube ich überhaupt nichts. Ich habe nicht genügend Fakten, um mir eine Meinung zu bilden.«
Auf einen ungeduldigen Wink von ihr, nahmen Chade und ich ebenfalls am Tisch Platz. »Aber was ist mit deiner Gabe?«, forschte sie. »Verrät sie dir nichts über ihn? Chade hat mir gesagt, er vermutet, du und mein Sohn, ihr wärt auf irgendeine Art in euren Träumen verbunden. Ich verstehe nicht, wie so etwas möglich sein kann, doch wenn es sich so verhält, musst du etwas wissen. Was hat er geträumt in diesen letzten Nächten?«
»Meine Antwort wird Euch nicht gefallen, Hoheit, ebenso wenig wie damals auf der Suche nach Veritas. Meine Gabe ist heute, wie sie damals war: launisch und unzuverlässig. Aus dem, was Chade mir berichtet hat, lässt sich unter Umständen der Schluss ziehen, dass ich gelegentlich in einem Traum von Prinz Pflichtgetreu zu Gast gewesen bin, doch falls es so ist, war es mir zu der Zeit nicht bewusst. Auch kann ich nicht nach Belieben in seine Träume eindringen. Wenn er geträumt hat in diesen letzten Nächten, gehörten seine Träume ihm allein.«
Kettricken rang die Hände. »Oder vielleicht hat er gar nicht geträumt. Vielleicht ist er längst tot oder muss Qualen erdulden, sodass er nicht schlafen und nicht träumen kann.«
»Majestät, Ihr malt Euch das Schlimmste aus und wenn Ihr das tut, kann Euer Verstand sich, vor Schrecken gelähmt, nicht mit der Lösung des Problems befassen.« Chades Tonfall war beinahe streng. Da ich wusste, wie nahe ihm das Verschwinden des Jungen ging, erstaunte mich seine Kälte, bis ich die Reaktion der Königin sah. Kettricken bezog Kraft aus seiner Härte.
»Natürlich. Du hast Recht.« Sie richtete sich auf. »Aber wie soll unsere Lösung aussehen? Wir haben nichts herausgefunden, auch FitzChivalric nicht. Du hast mir geraten, des Prinzen Verschwinden geheim zu halten, damit wir nicht das Volk in Unruhe versetzen und uns zu übereilten Handlungen gezwungen sehen. Es gab keine Lösegeldforderungen. Vielleicht sollten wir bekannt machen, dass der Prinz verschwunden ist. Irgendwer, irgendwo muss etwas wissen. Ich bin der Ansicht, wir müssen es verlautbaren und das Volk um Hilfe bitten.«
»Noch nicht«, hörte ich mich selbst sagen. »Ihr habt Recht damit, dass irgendwer irgendwo etwas wissen muss. Und wenn dieser Jemand etwas weiß und sich nicht gemeldet hat, dann hat er einen Grund dafür, und den möchte ich gern erfahren.«
»Was schlägst du dann vor?« Kettricken schaute mich fragend an. »Was bleibt uns noch übrig?«
Auch wenn ich wusste, dass es sie hart ankommen würde, ihre Ungeduld zu zügeln, sprach ich es aus. »Gebt mir etwas mehr Zeit. Einen Tag, höchstens zwei. Damit ich mehr Fragen stellen kann, mich gründlicher umschauen.«
»Aber bis dahin könnte ihm alles Mögliche zugestoßen sein!«
»Ihm könnte längst alles Mögliche zugestoßen sein«, gab ich zu bedenken. Betont ruhig sprach ich sie aus, die grausamen Worte: »Hoheit, falls er entführt wurde, weil man ihn töten wollte, hat man es inzwischen getan. Hat man ihn entführt, weil man plant, ihn zu benutzen, wartet man jetzt auf unseren Zug in diesem Spiel. Falls er weggegangen ist, weil er es wollte, besteht die Möglichkeit, dass er sich besinnt und nach Hause zurückkehrt. Solange wir sein Verschwinden geheim halten, liegt die Initiative bei uns. Wird es bekannt, geben wir sie aus der Hand. Eure sämtlichen Edlen werden landauf landab jeden Stein umdrehen, um den Prinzen zu finden, und gewiss nicht alle haben dabei allein sein Wohl im Sinn. Einige werden ihn ›retten‹ wollen, um sich die königliche Gunst zu erschleichen und manche haben es vielleicht darauf abgesehen, einem anderen Wiesel die Beute zu entreißen und selbst einen Nutzen daraus zu schlagen.«
Mit geschlossenen Augen nickte sie widerstrebend zu meinen Worten. Sie ließ einige Minuten verstreichen. Als sie dann sprach, war ihrer Stimme anzuhören, mit welcher Mühe sie sich beherrschte. »Aber du weißt, dass uns die Zeit wegläuft. Chade wird dich davon unterrichtet haben, dass eine Gesandtschaft der Outislander auf dem Weg ist, um des Prinzen Verlobung mit der Tochter eins ihrer Edlen zu besiegeln. Bei ihrer Ankunft, mit der in etwa zwei Wochen von heute an zu rechnen ist, muss mein Sohn wieder
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