Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
zum anderen leben. Wir essen und trinken und schlafen und nehmen an, dass wir uns ein um das andere Mal am Morgen erheben werden, neu gestärkt. Selbst wenn wir geplagt sind mit Wunden, die nur langsam heilen, mit Schmerzen, die bei Tag gelindert scheinen, um Abends mit ganzer Macht wieder aufzuflammen, selbst wenn Schlaf nicht mehr Erquickung bringt, selbst dann erwarten wir noch, dass irgendwie morgen alles wieder im Lot sein wird und wir weitermachen können wie bisher. An irgendeinem Punkt sind die Waagschalen aus dem Gleichgewicht geraten, und all unseren panischen Bemühungen zum Trotz finden wir uns auf der abschüssigen Bahn des langsamen Verfalls, von dem Körper, der sich selbst erneuert, zu dem, der mit verzweifelter Zähigkeit darum ringt, zu erhalten, was einmal war.
Ich starrte in die Dunkelheit. Plötzlich kam es mir vor, als wäre jedes Ausatmen des Wolfs länger als das Einatmen. Wie ein untergehendes Schiff, sank er jeden Tag tiefer in ein fatalistisches Dulden von Gewohnheit gewordenem Schmerz und schwindender Lebenskraft.
Jetzt schlief er tief und fest, alle Mühsal vergessen, den breiten Schädel auf meinem Schoß. Ich atmete verstohlen tief ein und legte dann behutsam die flache Hand auf seine Stirn.
Als Knabe war ich für Veritas ein Lebensspender gewesen. Er hatte die Hand auf meine Schulter gelegt und sich mittels der Gabe von mir die Kraft genommen, die er verzweifelt nötig brauchte, um die Roten Schiffe zu bekämpfen. Ich dachte zurück an den Tag am Bachufer bei meiner Hütte, und was ich getan hatte, um Nachtauges Leben zu retten. Erreicht hatte ich ihn mit der Alten Macht, aber geheilt mit der Gabe. Schon vorher hatte ich gewusst, dass man diese beiden Formen der Magie mischen konnte, fürchtete sogar, dass mein Gebrauch der Gabe immer von der Alten Macht verunreinigt sein würde. Nun wurde die Furcht zur Hoffnung, dass ich die beiden Fähigkeiten vereint nutzen konnte, für meinen Wolf. Denn mittels der Gabe konnte man nicht nur Kraft nehmen, sondern auch geben.
Ich schloss die Augen und bemühte mich, gleichmäßig ein-und auszuatmen. Die Schutzwehren des Wolfs waren offen, meine Beschwernisse als ein Weitseher aus meinen Gedanken getilgt. Nur Nachtauge war von Bedeutung. Ich öffnete mich weit und lenkte meine Kraft, meine Energie, die Tage meines Lebens zu ihm hin. Es war wie ein langes Ausatmen, ein Strom von Leben, der meinen Körper verließ und in ihn hineinfloss. Mir wurde schwindelig, dafür spürte ich bei ihm ein Erstarken, vergleichbar einer dem Erlöschen nahen Flamme, die neue Nahrung bekommt. Ich sandte einen zweiten Atemstrom zu ihm hin, der in mir eine Leere hinterließ, die sich mit Schwäche füllte. Unwichtig. Was ich ihm bis jetzt gegeben hatte, war das Mindeste gewesen, das ihn erquickte, aber nicht wirklich kräftigte. Er brauchte mehr. Ich konnte später essen und schlafen und mich erholen. In diesem Moment war er bedürftiger.
Dann erwachte sein Bewusstsein wie eine aufschießende Stichflamme und NEIN! begehrte er auf und riss sich von mir los, Körper und Geist, verschanzte sich hinter Barrieren, die es mir fast unmöglich machten, ihn zu erreichen. Versuchst du jemals wieder, das zu tun, werde ich dich verlassen. In jeder Weise und für immer. Du wirst mich nicht sehen, du wirst nicht meine Gedanken spüren, du wirst nicht meine Witterung an deiner Fährte entdecken. Verstehst du mich?
Ich fühlte mich wie ein Welpe, geschüttelt und beiseite geschleudert. Von der gewaltsam unterbrochenen Verbindung war ich betäubt, verwirrt, alles drehte sich um mich. »Warum?«, fragte ich matt.
Warum? Er schien zu staunen, dass ich fragen konnte.
In diesem Moment hörte ich das leise Knirschen von Sand unter einem vorsichtig aufgesetzten Fuß. Ich fuhr herum und sah meinen Gefangenen aus dem Höhleneingang huschen. Im Nu war ich aufgesprungen und stürmte hinter ihm her. Blind in Dunkelheit und Regen prallte ich gegen ihn, und wir rollten uns überschlagend den steinigen Hang hinunter. Er stieß einen Schrei aus, als wir hinfielen, dann hatte ich ihn gepackt und ließ nicht wieder los, bis wir schließlich holternd und polternd zwischen Gestrüpp und Geröll zum Halten kamen. Zerschlagen und benommen lagen wir nebeneinander, während losgerissene Steine an uns vorbeihüpften. Mein Messer war unter mir eingeklemmt, das Heft bohrte sich in meine Hüfte. Ich packte den Gescheckten an der Gurgel.
»Ich sollte dich töten, gleich hier«, knurrte ich ihn an. Von oben
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