Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
knabberten an der Honigwabe, die Harm für eines seiner Hühner bekommen hatte. Wir schwatzten über Nichtigkeiten: dass der Markt sich vergrößert hatte, seit ich das erste Mal dort gewesen war, und das Dorf ebenfalls, dass auf der Straße mehr Verkehr herrschte als im letzten Jahr. Baylor wurde nicht erwähnt. Wir passierten die Gabelung, deren einer Zweig früher einmal den Reisenden nach Ingot gebracht haben würde. Der Weg war mit Gras überwachsen. Harm fragte, ob ich glaubte, dass sich je wieder Menschen dort ansiedeln würden. Ich antwortete, ich hoffte es nicht, dass aber die Erzgruben dort ein starker Anreiz wären für Leute mit einem kurzen Gedächtnis. Unweigerlich kamen wir auf das zu sprechen, was in Ingot geschehen war und die schweren Zeiten der Korsarenkriege. Ich berichtete über die Ereignisse, als hätte ich alles von Dritten gehört, nicht, weil es mir Freude machte, in den Schrecknissen von damals zu schwelgen, sondern weil auch das ein Teil der Geschichte der Sechs Provinzen war, über die der Junge Bescheid wissen sollte, die jeder in den Sechs Provinzen für alle Zeit im Gedächtnis behalten sollte, und wieder nahm ich mir vor, eine Chronik jener Jahre zu verfassen. Ich dachte an meine vielen mutigen Anfänge, an die Schriftrollen, die sich auf dem Regal über meinem Schreibtisch stapelten, und fragte mich, ob ich je damit zu Ende kommen würde.
Eine plötzliche Frage von Harm riss mich aus meinen Gedanken.
»Bin ich ein Bastard der Roten Korsaren?«
Im ersten Moment war ich sprachlos. Mein ganzer alter Schmerz über dieses Wort stand frisch in Harms verschiedenfarbigen Augen. Harm, so hatte seine Mutter ihn genannt. Merle hatte ihn gefunden, einen zerlumpten, halb verhungerten Waisenjungen, den keiner im Dorf aufnehmen und durchfüttern wollte. Mehr wusste ich nicht von ihm. Ich zwang mich zu einer ehrlichen Antwort. »Ich weiß es nicht. Du könntest von einem der Korsaren gezeugt worden sein.«
Er blickte starr geradeaus, während er neben dem Karren herging. »Merle hat mir gesagt, ich wäre einer. Ich bin im richtigen Alter und vielleicht wollte mich deswegen keiner in seinem Haus haben. Ich würde es gern wissen. Ich wüsste gern, wer ich bin.«
»Oh«, sagte ich endlich in die lastende Stille.
Er nickte ruckartig, zweimal. Seine Stimme klang gepresst, als er hinzufügte: »Als ich sagte, ich müsste dir das erzählen, mit ihrem Ehegemahl, da sagte Merle, ich hätte das gleiche kalte Herz wie der Vergewaltiger, aus dessen Samen ich entstanden sei.«
Ich wünschte mir plötzlich, er wäre noch ein Knabe, den ich einfach hochheben konnte und an mich drücken. Stattdessen legte ich ihm den Arm um die Schultern und zwang ihn stehen zu bleiben. Das Pony trottete ohne uns weiter. Ich schaute ihm nicht in die Augen und bemühte mich, meiner Stimme einen aufmunternden Klang zu geben. »Ich werde dir ein Geschenk machen, Sohn. Um zu der folgenden Erkenntnis zu gelangen, habe ich zwanzig Jahre gebraucht, also halte sie in Ehren. Ich gebe sie an dich weiter, solange du jung bist.« Ich holte tief Atem. »Es kommt nicht so sehr darauf an, wer eines Mannes Vater ist. Deine Eltern haben ein Kind gezeugt, doch es liegt bei dir, daraus den Mann zu machen, der du sein wirst.« Ich hielt einen Moment seinen Blick fest, dann, bevor es peinlich werden konnte, sagte ich: »Komm. Gehen wir nach Hause.«
Wir setzten unseren Weg fort. Nach einer Weile nahm ich den Arm von seinen Schultern und ließ ihn allein weiterwandern, damit er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Meine Gedanken beschäftigten sich mit Merle, auf eine Art, dass ihr, wo immer sie jetzt sein mochte, wahrscheinlich die Ohren klangen.
Die Dunkelheit brach herein bevor wir zu Hause waren, aber der Mond schien und wir kannten beide den Weg. Das alte Pony trabte stillvergnügt die Chaussee entlang; das Pochen der Hufe und das Knarren des zweirädrigen Karrens ergab eine seltsame, melancholische Musik. Ein Sommerregen setzte ein, schlug den Staub nieder und brachte Erfrischung. Irgendwann gesellte Nachtauge sich zu uns, nonchalant, als hätte reiner Zufall ihn des Wegs geführt. Gemeinsam wanderten wir das letzte Stück, der Junge schweigend, der Wolf und ich in dem mühelosen Gedankenaustausch der Alten Macht. Wir nahmen die Erlebnisse des anderen an diesem Tag auf wie einen Atemzug. Er vermochte meine Sorgen um die Zukunft des Jungen nicht zu begreifen.
Er kann jagen, und er kann fischen. Was muss er sonst noch wissen?
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