Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
Weshalb einen der Unseren zu einem anderen Rudel schicken, damit er ihre Bräuche lernt? Wir werden geschwächt durch den Verlust seiner Kraft. Wir werden nicht jünger, du und ich.
Bruder, das ist vielleicht der triftigste Grund, weshalb er fortgehen sollte. Er muss anfangen, auf eigenen Füßen zu stehen, damit er, wenn für ihn die Zeit kommt eine Gefährtin zu nehmen, für sie und seine Kinder sorgen kann.
Was ist mit dir und mir? Werden wir ihm nicht helfen? Werden wir nicht die Welpen bewachen, während er jagt, oder unsere Beute zum Bau bringen, um mit ihm zu teilen? Sind wir nicht Clan mit ihm?
Im Menschenrudel ist es so Brauch. Es war eine Antwort, die ich ihm in unseren gemeinsamen Jahren schon oft gegeben hatte. Ich wusste, was er davon hielt. Es war ein Menschenbrauch und reiner Unfug und obendrein Zeitverschwendung, ihn begreifen zu wollen.
Was wird aus uns, wenn er fort ist?
Ich habe es dir gesagt Vielleicht gehen wir wieder auf Wanderschaft.
Ach ja. Einen gemütlichen Bau und gute Jagd im Stich lassen. Das ist ebenso sinnvoll, wie den Jungen wegzuschicken.
Ich ließ diesen Gedanken unbeantwortet, denn er hatte Recht. Vielleicht war die Ruhelosigkeit, die Chade in mir geweckt hatte, das letzte Aufwallen meiner entschwindenden Jugend gewesen. Vielleicht hätte ich Jinna eins von diesen Brautschauamuletten abkaufen sollen. Von Zeit zu Zeit hatte ich mit dem Gedanken gespielt, eine Frau zu suchen, doch es schien mir ein gar zu pragmatischer Weg, eine Lebensgefährtin zu wählen. Manche taten es, suchten lediglich eine Frau oder einen Mann mit ähnlichen Plänen und ohne übermäßig ärgerliche Gewohnheiten. Paare, die sich auf diese Weise fanden, entwickelten oft Zuneigung und Wertschätzung füreinander. Doch nachdem ich einmal den süßen Rausch wirklicher Liebe erlebt hatte, glaubte ich nicht, je mit weniger zufrieden sein zu können. Es wäre nicht gerecht, einer anderen Frau zuzumuten, in Mollys Schatten zu leben. In all den Jahren, die Merle mit Unterbrechungen mit mir geteilt hatte, hatte ich nie daran gedacht, sie zu bitten, mich zu heiraten. Ich stutzte einen Moment: Hatte Merle je gehofft, dass ich um ihre Hand anhielt? Dann lächelte ich grimmig vor mich hin. Nein. Merle hätte ein solches Ansinnen wunderlich gefunden, wenn nicht sogar albern.
Die letzte Etappe unserer Heimkehr bewältigten wir im Stockfinstern, denn der Pfad zu unserer Hütte war schmal und von Bäumen überschattet. Regen tröpfelte von den Blättern. Der Karren holperte über hervorstehende Wurzeln. »Wir hätten eine Laterne mitnehmen sollen«, meinte Harm und ich brummte zustimmend. Unsere Hütte war ein schwarzer Buckel in der mit Schatten gefüllten Mulde, die wir unser Zuhause nannten.
Ich ging hinein, machte Feuer und räumte unsere eingetauschten Güter weg. Harm nahm eine Lampe und versorgte das Pony. Nachtauge streckte sich schnaufend vor dem Kamin aus, so dicht am Feuer wie möglich, ohne sich den Pelz zu versengen. Ich setzte den Kessel auf und tat die paar Münzen, die wir eingenommen hatten, zu Harms kleinem Schatz. Zu wenig, viel zu wenig, musste ich mir widerwillig eingestehen. Auch wenn Harm und ich uns für den Rest des Sommers als Tagelöhner verdingten, würde es nicht reichen. Und wir konnten nicht beide weggehen, wenn wir nicht Garten und Hühner verwildern lassen wollten. Wenn aber nur einer sich verdingte, ging möglicherweise ein weiteres Jahr oder mehr ins Land, ehe wir eine angemessene Summe beisammen hatten.
»Ich hätte schon vor Jahren anfangen müssen, für diesen Zweck zu sparen«, bemerkte ich trübsinnig, als Harm von draußen hereinkam. Er stellte die Laterne auf das Bord und ließ sich auf den anderen Stuhl fallen. Ich deutete mit dem Kopf auf die Teekanne, und er goss sich einen Becher ein. Die auf dem Tisch gestapelten Münzen bildeten eine kümmerliche Mauer zwischen uns.
»Zu spät, um sich deswegen Vorwürfe zu machen«, meinte er und blies in den Becher. »Wir müssen mit dem wirtschaften, was wir haben.«
»Genau. Was glaubst du, könntet ihr, du und Nachtauge, hier allein zurechtkommen, während ich draußen versuche, etwas zu verdienen?«
Der Blick, mit dem er mich anschaute, war der ruhige Blick eines Erwachsenen. »Weshalb solltest du derjenige sein, der auf Arbeitssuche geht? Das Geld wäre für meine Lehrstelle.«
Mir widerfuhr eine seltsame kleine Verschiebung der Perspektive. Der Satz, weil ich größer bin und stärker und mehr verdienen kann, traf nicht mehr
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