Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
Jahre als Einsiedler fern der menschlichen Gesellschaft. Ich glaubte, ich würde nie zurückkehren.
In jenen Jahren unternahm ich es, eine Chronik der Sechs Provinzen zu verfassen und die Geschichte meines eigenen Lebens niederzuschreiben. Außerdem beschaffte ich mir Schriftrollen und Aufzeichnungen über eine Vielzahl unterschiedlicher Themen und studierte sie. Beide Vorhaben dienten dem Zweck, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, die Einflüsse und Kräfte zu entdecken und zu analysieren, die dafür verantwortlich waren, dass mein Leben diesen Verlauf genommen hatte. Doch je mehr Wissen ich zusammentrug und je mehr ich meine Gedanken dem Papier anvertraute, desto hartnäckiger entzog sich mir die Wahrheit, die ich zu fassen suchte. Was das Leben mich in den Jahres des freiwilligen Exils lehrte, ist, dass kein Mensch jemals die ganze Wahrheit von etwas kennt Auf all meine Erfahrungen und das Bild von mir selbst, warf die Zeit ein neues Licht. Was grell beleuchtet erschien, versank in Schatten, Kleinigkeiten, für unwichtig gehalten, traten in den Vordergrund.
Burrich, der Stallmeister und der Mann, bei dem ich aufwuchs, warnte mich einmal: »Wenn du die Wahrheit beschönigst, weil du nicht dastehen willst wie ein Esel, wirst du am Ende dastehen wie ein Hornochse.«
Aus eigener Erfahrung kann ich heute sagen, dass er Recht hatte. Doch auch der verantwortungsvolle und genaue Chronist ist nicht davor gefeit, Jahre nachdem er nach bestem Wissen und Gewissen von einem Vorfall berichtet hat, als Lügner zu erscheinen. Solche Verfehlungen sind nicht die Folge bösen Willens, sondern einzig der Unkenntnis bestimmter Fakten zur Zeit der Niederschrift oder weil die Bedeutung trivialer Ereignisse nicht abzusehen war. Niemand erkennt gern, dass ihm ein solcher Fehler unterlaufen ist, doch wer behauptet, ihm sei das nie passiert, setzte nur eine Lüge auf die andere.
Meine Versuche, eine Chronik der Sechs Provinzen zu verfassen, basierten auf mündlicher Überlieferung und den alten Quellen, zu denen ich Zugang hatte. Als ich die Feder zur Hand nahm, wusste ich, dass ich Gefahr lief, die Irrtümer anderer zu verewigen. Hingegen hatte ich nicht geahnt, dass meine autobiographischen Bemühungen den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sein könnten. Die Wahrheit, entdeckte ich, ist ein Baum, der wächst, während ein Mensch Erfahrungen sammelt. Ein Kind sieht das Samenkorn seines täglichen Lebens, der Mann aber schaut zurück auf den Eichbaum.
Einmal der Kinderzeit entwachsen, bleibt die Tür dorthin unwiderruflich verschlossen, doch es gibt Phasen im Leben eines Menschen, wo er sich noch einmal in dem Glauben wiegen darf, dass die Welt vergibt und er unsterblich ist. Meiner Meinung nach ist das die Essenz des Kindseins: Die Überzeugung, dass alle Fehler verzeihlich und wiedergutzumachen sind. Der Narr lockte diesen alten Optimismus in mir hervor, und selbst der Wolf gebärdete sich ausgelassen und übermütig während seines Aufenthalts.
Der Narr war keine Störung in unserem Leben. Wir brauchten keine Zugeständnisse zu machen. Er war einfach da, passte sich unserem Tagesablauf an und machte meine Pflichten zu den seinen. Regelmäßig war er vor mir auf. Wenn ich morgens erwachte, standen die Türen meiner Schlafkammer und meiner Klause offen, die Haustür meistens ebenfalls. Von meinem Bett aus sah ich ihn im Schneidersitz auf meinem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzen. Er war stets gewaschen und vollständig angekleidet. Die vornehmen Gewänder waren nach dem Tag seiner Ankunft verschwunden, an ihre Stelle traten schlichte Kittel und Hosen oder die abendliche Bequemlichkeit eines Hausmantels. Im selben Moment wenn ich die Augen aufschlug, wusste er, dass ich wach war und schaute zu mir her. Immer las er, entweder die Schriftrollen oder Pergamente, die ich zusammengetragen hatte, oder er stöberte in meinen eigenen Manuskripten. Bei letzteren handelte es sich um meine gescheiterten Versuche an einer Chronik der Sechs Provinzen sowie meine bruchstückhaften Bemühungen, einen Sinn in meinem Leben zu erkennen, indem ich es auf Papier bannte. Er hob eine Augenbraue und legte das betreffende Schriftstück sorgsam wieder an die Stelle zurück, wo er es weggenommen hatte. Wäre es seine Absicht gewesen, hätte ich von seiner Beschäftigung mit meinen Aufzeichnungen nichts bemerkt.
Stattdessen erwies er mir insofern Respekt, dass er nie Fragen über das Gelesene stellte. Die privaten Gedanken, die ich dem Papier anvertraut
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