Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zwischenwelt (German Edition)

Die Zwischenwelt (German Edition)

Titel: Die Zwischenwelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Filomena Nina Ribi
Vom Netzwerk:
erinnerte mich, wie er zwanzig Jahre zuvor barfuß dort gesessen hatte. Das Geräusch des Wasserfalls war laut. Ich machte einen Schritt nach vorn zur Kante und schaute hinunter.
    „Zehn Meter.“ Ich sprang.

Der Brunnen
    F iona hatte die Eltern ihres Vaters nie gekannt; sie waren kurz vor ihrer Geburt gestorben. Die Eltern ihrer Mutter Martina hingegen, also ihre Großeltern Augusto und Annelise, hatte sie durchaus gekannt – und wie. So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatten die beiden sich gestritten. Großvater Augusto drohte seit eh und je mit Selbstmord und als beide Großeltern richtig alt wurden, drohten sie sich beide gegenseitig mit Scheidung. Das spaltete die ganze Familie: Es war ein ewiges Gejammer und jeder versuchte, die fünf erwachsenen Kinder auf seine Seite zu ziehen. Meistens unterstützten drei die Augusto-Partei und zwei die Annelise-Fraktion und deshalb stritten sich auch die Söhne und Töchter miteinander. Hätten sich Augusto und Annelise doch scheiden lassen – aber nein, sie hatten mit 20 geheiratet und bis 85 gestritten: „Bis der Tod uns scheidet …“
    Augustos Sarg wurde einige Tage lang im Haus aufbewahrt, damit man sich verabschieden konnte. Die jüngste Tochter, die am meisten mit ihm zerstritten gewesen war, hatte seinen Körper sehr liebevoll mit Efeu und roten Rosen dekoriert. Sie war auch diejenige, die später bei der Beerdigung am lautesten geweint hatte.
    Es war um die Mittagszeit mitten im Sommer gewesen, als die Familienmitglieder auf der Veranda gesessen und Kaffee getrunken hatten. Fiona war damals achtzehn gewesen und hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Sie ging ins Zimmer, als niemand anderes dort war – sie wollte alleine sein. Durch das Glas auf der Oberseite des Sarges konnte sie Großvater Augusto betrachten. Er sah so aus, als ob er noch lebte und nur am schlafen wäre, als ob er jeden Moment aufwachen könnte. Er sah friedlich aus und Fiona dachte, sie hätte alles im Griff, alles unter Kontrolle – keine Tränen. Sie war gerade dabei, seine schönen ineinandergewobenen Hände zu betrachten, als plötzlich alles erzitterte und die eine Hand sich ein Stück bewegte. Sie erstarrte vor Schreck: Die Abkühlungsmaschine, die den Sarg und dessen Inhalt kühl hielt, hatte nach einem Moment Pause wieder angefangen, zu arbeiten – beim Einschalten hatte sie den ganzen leblosen Körper zum Vibrieren gebracht. Fiona hatte solch einen Schreck bekommen, dass sie, ohne ein Wort zu ihren Verwandten zu sagen, wegging. Als sie mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, weinte sie dann in Strömen, während ihre Verwandten dachten, sie habe keine Gefühle.
    Wenige Tage später bei der Beerdigung hatte sie dann keine Träne mehr vergossen – auch nicht, als sich mit dramatischer Musik eine kleine Tür in der Wand öffnete und der Sarg in die Flammen rollte und verschwand. Das war mit ein Grund dafür, dass Martina ihre Tochter Fiona als Person mit einem Granitherz bezeichnete.
    Großvaters Beerdigung war die letzte gewesen, die Fiona besucht hatte. Aus Angst, die Kontrolle zu verlieren, war sie nicht zur Beerdigung ihres Vaters gegangen. Zudem wäre auch Sibylla dort gewesen – Spannungen jeglicher Art waren vorprogrammiert und der Schmerz war zu groß gewesen. Wie hätte man sie angeschaut, wenn sie, von ihren Gefühlen überwältigt, explodiert wäre?
    Zum Grab ihres Vaters war Fiona erst drei Monate nach seinem Tod gegangen. Es war ein schöner Tag im Winter: Eiskalt, aber sonnig. Als sie auf dem Friedhof war, musste sie nicht lange suchen; sie wurde von seinem Grab regelrecht angezogen. Sein Name, Ernst Costanzo, war in goldfarbenen Buchstaben in den Stein gemeißelt. Das war hart für Fiona: Das war der materielle Beweis dafür, dass er definitiv tot war. Fiona hatte ihre Hand auf die kalte Inschrift gelegt und mit großer Traurigkeit festgestellt, dass sie nicht träumte: Ihr Vater war tot und er bestimmte immer noch ihr Leben. Das wollte sie ändern.
    Am Morgen hatte, nachdem sie von der Zwischenwelt und der Versöhnung mit dem Kind geträumt hatte, wie üblich der Wecker geläutet. Fiona war aufgestanden, hatte sich einen Kaffee gemacht und war mit der Tasse ans Fenster getreten. Sie hatte die Leute auf der Straße beobachtet, die es schon so früh am Morgen eilig hatten. Man konnte sehen, dass sie alle müde waren und die meisten sahen auch schlecht gelaunt aus. Es war immer noch dunkel.
    Fulvia, die fünfundzwanzigjährige hellblonde Nachbarin, die

Weitere Kostenlose Bücher