Die Zwischenwelt (German Edition)
ging zu meinem Fahrrad und fuhr in meiner nassen Bekleidung zu dem Geschäft, wo ich seit eh und je arbeitete. Die Besucher, an diesem Tag vor allem Touristen, die draußen an den Tischen der Bar „Zum Bogengang“ saßen, schauten mich belustigt an, als ich so vollkommen nass mit dem Fahrrad vorbeifuhr und es in der Nähe abstellte. Einem siebzehnjährigen Mädchen mag es durchaus erlaubt sein, sich so zu präsentieren – nicht aber einer über vierzigjährigen Frau. Ich stürmte in den Laden.
„Ich kündige!“, rief ich Manuela, meiner langjährigen Mitarbeiterin, zu.
„Wie, du kündigst? Das ist ein Scherz, oder?“, fragte sie mich und zog ihre gezupften und gefärbten Augenbrauen bis zur Stirnmitte nach oben.
„Ja, im Ernst: Ich gehe.“
„Wohin denn? Was ist denn los mit dir? Gefällt’s dir hier nicht mehr?“
Manu war in der Stadt geboren und hatte immer dort gelebt; sie kannte jeden und jede und würde sicher auch dort sterben. Das war ihr Schicksal und sie war zufrieden damit – schön für sie.
„Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde“, erklärte ich, „aber eins ist sicher: Ich werde dieses Geschäft und diese Stadt verlassen und ein neues Leben führen, ein richtiges Leben!“ Anschließend umarmte ich sie, wobei sie eine kleine Grimasse zog, weil meine Kleidung so feucht war. Dann ging ich raus.
Als ich endlich über den Wolken schwebte, konnte ich zum ersten Mal seit langem wieder entspannen. In kürzester Zeit hatte ich es geschafft, mein Haus zu vermieten, meine Koffer zu packen und die restlichen Details zu klären. Jetzt saß ich erschöpft aber glücklich im Sessel eines Flugzeugs und meine Katze Clotilde war auch mit dabei – Christophs Asche natürlich auch. Das Ziel war Sidemen, ein kleines Dorf auf Bali in Indonesien. Alles hatte wie geschmiert funktioniert, also musste es das Richtige sein.
Die Landschaft, die ich aus dem Fenster sah, war atemberaubend: Ein Wolkenmeer und darüber die Sonne, die dabei war, darin einzutauchen. Es bildeten sich horizontale rote Streifen, die mit der Zeit an Intensität immer mehr zunahmen. In einer Richtung war es noch hell, in der anderen schon stockfinster. In dem Moment, in dem die Sonne am Horizont verschwand, dachte ich an meine Mutter und an Christoph: „Wo sind sie jetzt wohl in diesem Moment?“, dachte ich, „wohin gehen die Verstorbenen? Gehen sie überhaupt irgendwohin? – Hoffentlich.“ Das Paradies stellte ich mir genau so vor wie das, was ich hier oben gesehen hatte: Ein enorm großes Wolkenmeer über der Erde – das wäre schön. Und eines Tages würde das Gute an meinem Tod sein, dass ich sie wiedertreffen könnte. Darauf freute ich mich.
Ich fühlte ein Schaukeln und hörte ein Rauschen. Schnell wurde mir schwindlig. Ich wollte zur Tasche des Vordersitzes greifen, um eine „Kotz-Tüte“ herauszunehmen, als der Sitz vor meinen Augen verschwamm und mit ihm auch alle übrigen Sitze des Flugzeuges. Ich tastete mit meiner Hand umher, konnte aber nichts mehr fassen. Da stand plötzlich ein älterer Mann vor mir und meinte: „Da bist du. Schön, dich wiederzusehen. Komm, gehen wir ein paar Schritte den Strand entlang.“
Ich war in der Zwischenwelt und es herrschte Hektik.
Der richtige Weg
Z wei Tage hatte sich Fiona frei genommen, am dritten Tag ging sie wieder zur Arbeit. Sie dachte, sie könnte so tun, als ob nichts gewesen wäre, einfach wieder arbeiten gehen und weitermachen, aber das funktionierte nicht: Sie saß noch nicht lange an ihrem Bürotisch, da fing sie schon an, über die Zwischenwelt nachzudenken. Die Begegnungen mit sich selbst als Kind und als junge Frau hatten sie sehr beeindruckt. Sie konnte nun deutlich sehen, wie sehr sie sich selbst vernachlässigt und wie sehr ihr Vater sie traumatisiert hatte.
„Was mache ich denn noch hier?“, fragte sie sich. „Das war der Arbeitsplatz, den er für mich gewollt hätte, nicht den, den ich wirklich will. Ich wollte ihm ja nur gefallen, ich suchte Anerkennung von ihm.“
Fiona dachte zuerst, dieser verwirrte Gemütszustand würde sich legen – vielleicht war sie ja nur deshalb bei der Arbeit nicht so motiviert, weil ihr Vater gestorben war. Vielleicht gehörten diese Gefühle zur Trauer dazu und waren damit vollkommen normal.
„Wahrscheinlich stelle ich deshalb alles in Frage, weil ich am Trauern bin“, dachte sie. „Sobald sich das gesetzt hat, werde ich meine Arbeit wieder genießen können und bis dahin bleibe ich sicherheitshalber in dieser
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