Die Zwischenwelt (German Edition)
beheizten Aquarium zu platzieren, versuchte ich, die Eisschicht zu zerbrechen, was ziemlich schwierig war. Ich arbeitete lange mit Pickel und heißem Wasser, bis sich endlich ein Loch bildete. Anschließend versuchte ich, den Fisch mit meiner Hand zu greifen. Kurz bevor meine Hand im kalten Wasser erstarrte, schaffte ich es tatsächlich, den Fisch zu halten – aber er klebte fest.
„Moment“, dachte ich mir, „er klebt? – Oh, nein! Er ist teilweise eingefroren! Lebendig eingefroren, Scheiße!“ Ein Teil des Rückens und der Schwanzflosse waren Eins mit dem Eis geworden. Und jetzt? – Ich konnte ihn doch nicht dort erfrieren lassen! Stunden kniete ich am Rand des Beckens und hämmerte auf die Eisschicht ein wie eine Verrückte, um einen Kreis um den Fisch durchzubrechen. Schließlich raste ich, völlig am Ende, mit einem Eimer voll Wasser, in dem eine Eisscholle mit Fisch schwamm, zurück ins Haus. Unglaublich: Im Aquarium taute er auf und überlebte. Lediglich ein Teil seiner Flosse starb ab und im Frühling setzte ich ihn wieder aus. So war es zu der missgebildeten Flosse gekommen.
Clotilde, die Katze, die auf drei Beinen flink herumgaloppierte, war hingegen nicht erfroren, sie hatte eine ganz andere Geschichte erlebt. Auf dem Hügel, wo sich unser Garten und noch andere Gärten befanden, lebte eine Kolonie verwilderter Katzen. Sie waren alle eng verwandt miteinander und wegen eines genetischen Defektes waren die meisten dreibeinig und grau. Ihnen fehlte jeweils das linke Hinterbein. Jemand fütterte sie, kastriert wurden sie aber nicht. So vermehrten sie sich endlos, bis dann irgendwann der Tierschutz kam, sie alle einsammelte und von einem Tierarzt einschläfern ließ – heutzutage würde man sie wohl kastrieren und wieder frei lassen. Christoph hatte es geschafft, sich einer dieser Katzen zu nähern und ihr ein rotes Halsband zu verpassen. Als wir vom Kilimandscharo zurückgekommen waren, war fast die ganze Kolonie ausgerottet gewesen – außer eben Clotilde. Jetzt, so viele Jahre später, war Christoph weg und sie war noch da. Ich fragte mich, was ich überhaupt hier auf dieser Welt noch zu suchen hatte.
Ich stand auf und ging zu dem kleinen Tempel. Ich staunte über eine Fliege, die sich dort reinigte mit so etwas wie einem angeborenen Stolz, dass ich fast neidisch wurde: Sie schien einfach stolz, eine Fliege zu sein. In der Nähe schwebte auch eine Spinne in der Mitte ihres perfekten Spinnennetzes. Wahnsinnig, wie die Spinne, ohne je entmutigt zu sein, jeden Tag ihr Netz neu aufstellte – egal, ob der vorige Tag von Erfolg geprägt war oder nicht. Beide waren vollkommen und durften sein, was sie waren: Sie selbst.
Ich entschloss mich zu, gehen. Im Garten schaute ich auf dem Weg zum Haus noch den Rosenstock an. Er war nicht in seiner Hochform und einige Läuse sogen seinen Saft. Ich pickte eine grüne Laus mit meinen Finger auf. Sie war sanft eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich ging zu dem kleinen Tempel zurück, schaute das perfekte leere Netz an und warf die Laus hinein. Die Spinne kam, angeseilt, wie eine Rakete herangeschossen. Im Nu wurde die Laus eingewickelt und landete paralysiert im Mundwerk der Spinne. Sie tat mir ein bisschen Leid.
Später packte ich mein Fahrrad und fuhr ins Stadtzentrum zur Bar „Zum Bogengang“. Da es ein milder Tag war, standen Stühle und Tische draußen auf der Gasse. Ich setzte mich hin und es verging eine Ewigkeit, bis eine Bedienung erschien. In der Zwischenzeit hatte ich Zeit, nachzudenken und den Passanten zuzuschauen.
„Was habe ich bisher erreicht?“, fragte ich mich. „Ich bin in der Mitte meines Lebens und fühle mich vollkommen alleine. Ich sitze hier und meine Generation ist nicht mehr anwesend. Die Leute, die früher hierher kamen, sind weg – jetzt ist die heutige Jugend hier. Meine Generation ist irgendwo versteckt, hütet ihre Kinder oder gar Enkelkinder, hat Familie, Rückhalt, Liebe, eine Aufgabe. Nein, ich muss aufhören.“ Ich wartete nicht weiter auf meinen Kaffee; ich stand auf, stieg auf mein Fahrrad und fuhr wieder los.
Obwohl ich schon lange nicht mehr dort gewesen war, fand ich den Weg schnell. Ich liebe Kastanienwälder. Ich lief durch das Wasser zu unserer Plattform, dem Ort, an dem ich viel Zeit mit Sara verbracht und an dem ich Christoph kennengelernt hatte. Ich stand dort auf dem Stein und schaute in die Weite des Tales hinunter. Christophs Grinsen kam mir in den Sinn und seine herzigen Sommersprossen. Ich
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