Die Zwischenwelt (German Edition)
Kanzlei – hier habe ich wenigstens ein regelmäßiges Einkommen.“
Als Fiona am Abend nach diesem Arbeitstag einschlief, dachte sie, ihre Probleme seien erledigt. Sie freute sich auf die Nacht, denn vielleicht würde sie wieder von der Zwischenwelt träumen. Diese entspannte Vorfreude hielt aber nicht lange an, denn im Traum befand sie sich dann doch nicht an dem bekannten Strand:
Es war kalt. Der Himmel war weiß und um Fiona herum erhoben sich kahle, felsige Berggipfel. Am Boden lagen im niedrigen hellen Gras verstreut einige mit Moos bedeckte Steine.
„Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?“, fragte sie sich und fing gleich an, zu wandern. Wenig später zog ein viereckiger Teich ihre Aufmerksamkeit auf sich – das stille Wasser darin war schwarz. Fiona schloss daraus, dass es eiskalt sein musste. Plötzlich stellte sie mit großem Schrecken fest, dass knapp unter der Wasseroberfläche der reglose Körper einer Frau im Wasser trieb, er schwebte in fötaler Stellung. Der Rücken war sichtbar, das Gesicht zeigte nach unten. Fiona steckte ihre Hand ins kalte Wasser, griff nach der Schulter und drehte die Leiche um. Das Blut gefror ihr in den Adern, als sie das Gesicht der Toten sah.
„Das bin ja ich! Ich sehe, wie ich aussehe, wenn ich tot und ganz weiß bin!“ Fiona empfand Grauen, aber auch Mitleid. Sie hatte so viel durchgemacht und jetzt war sie tot. „Aber wer bin ich denn eigentlich, wenn ich schon hier im Wasser liege?“, murmelte sie und wachte verschwitzt auf.
Vor lauter Aufregung konnte sie nicht mehr einschlafen und war am Tag danach völlig kaputt. Als sie auf dem Weg zur Arbeit im Zug saß und durch die Felder fuhr, begriff sie, dass die Anwaltskanzlei nicht der richtige Arbeitsplatz für sie sei: Anwältin war nicht ihre Berufung und nicht ihr Weg – sie war dabei, innerlich zu sterben. Sie musste unbedingt etwas tun, wurde ihr klar, etwas ändern.
Als der Zug an ihrer Station hielt, stieg sie nicht aus. Ihr Herz fing an, schneller zu klopfen, denn sie war dabei, mit einer Gewohnheit zu brechen und eine Sicherheit aufzugeben: Ab diesem Zeitpunkt war alles neu.
Der Zug fuhr weiter. Die anderen Passagiere waren wahrscheinlich ganz entspannt, da es für diese ein Tag wie jeder andere war. Sie ahnten vermutlich nicht, dass die gut gekleidete Anwältin eigentlich bei der letzten Haltestelle hätte aussteigen sollen.
Fiona war unruhig, sie warf ihr linkes Bein über ihr rechtes, nur um kurz darauf das rechte über das linke zu werfen. Sie entschloss sich, zu kündigen und wie sie schon einmal dabei war, entschloss sie sich, im Zug zu bleiben und eine kleine Reise zu unternehmen – irgendwohin, ganz egal, wohin. Als diese Entscheidung getroffen war, beruhigte sie sich wieder ein wenig und fing an, die Aussicht zu genießen. Felder zogen vorbei, Dörfer und wieder Felder. Bald fuhr der Zug an einem langen Seeufer entlang und Fiona ließ ihre Müdigkeit zu: Sie schloss die Augen und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war. Es war das erste Mal, dass sie in einem Zug einschlief.
In der Zwischenwelt war es kalt und nebelig. Der Himmel war weiß und der Boden auch. Eine dicke Schneeschicht hatte den Sand bedeckt und ein eisiger Wind stürmte und wirbelte den Schnee auf. Fiona konnte nicht weit sehen und alles war weiß außer dem Meer, das schwarz und sehr bewegt war. Heute schien die Zwischenwelt leblos zu sein.
Fiona war warm bekleidet, aber sie fror trotzdem. Sie trug eine dicke weiße Wollmütze, einen schweren braunen Wintermantel, Handschuhe, Ski-Hosen und Stiefel. Beim Gehen im Schnee konnte sie das Knirschen nicht hören, der Wind war zu laut. Würde sie jetzt ihren Vater treffen? War das das Paradies? – Sie hatte es sich wahrlich anders vorgestellt. Im Nebel erschienen eine kleine eingemummte Gestalt und eine Größere, die die Kleine an der Hand hielt.
„Mona!“, rief Fiona.
Der Wind hörte sofort auf, zu blasen. Matilde, der Hund, war auch mit dabei, kam nun angerannt und begrüßte Fiona freudig.
„Tilde! Hallo, meine Süße!“, freute sich auch Fiona.
„Schön, dass du gekommen bist, Fiona“, sagte Mona. „Ich habe hier jemanden, der mit dir sprechen möchte.“
Die eingemummte Gestalt entfernte den Schal vom Gesicht – es war die fünfjährige Fiona.
„Nicht schon wieder“, murmelte die erwachsene Fiona. „Ich dachte, das sei erledigt. Wo ist mein Vater? Eigentlich wollte ich ihn treffen!“
„Der ist noch unterwegs. Er muss noch einiges
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