Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Nachmittag des dritten Tages näherten sie sich Philadelphia. Sie hatten einen halben Kontinent durchquert. Vor ihnen lag die Ostküste hinter einer Barrikade aus Großstädten, die sich wie ein menschlicher Wall ans Meer drängten. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins machte sich breit. Es gab nichts mehr, wohin sie fliehen konnten. Sie fuhren am Schuylkill River entlang auf die Stadt zu; sein Wasser war dunkel und undurchdringlich wie Granit. Die Kleinstädte der Umgebung wirkten, als habe sich hier alles versteckt. Die Häuser waren mit Brettern vernagelt, und kein Auto war auf den Straßen unterwegs. Der Zeiger der Treibstoffanzeige pendelte gegen null. Der Fluss verbreiterte sich zu einem Becken. Dichte Bäume, durch die das Sonnenlicht funkelte, säumten die Straße wie ein Vorhang. Auf einem Schild stand: CHECKPOINT 2 MEILEN . Nach einer kurzen Beratung waren sich alle einig: Sie hatten ihr Ziel erreicht. Hier würden sie sich ihrem Schicksal überlassen.
Soldaten gaben ihnen Anweisungen. Bis zur Sperrstunde waren es noch zwei Stunden, aber schon jetzt war es still auf den Straßen, und es rührte sich buchstäblich nichts außer Militärfahrzeugen und ein paar Polizeiautos. Schmale, sonnendurchflutete Gassen, verwahrloste Brownstone-Häuser, die berüchtigten Straßenecken, an denen früher Banden von jungen Männern gelungert hatten– und dann, plötzlich, erschien der Park, eine grüne Oase im Herzen der Stadt.
Sie folgten den Schildern durch die Absperrungen; maskierte Soldaten winkten sie durch. Im Park wimmelte es von Menschen wie bei einem Konzert. Zelte, Wohnwagen, Gestalten, die sich zwischen ihren Koffern auf dem Boden zusammengerollt hatten, als hätte eine Flutwelle sie dort angeschwemmt. Als das Gedränge zu dicht wurde, waren sie gezwungen, den Bus am Straßenrand stehen zu lassen und zu Fuß weiterzugehen. Sie bewegten sich im Gleichtakt; noch waren sie außerstande, einander gehen zu lassen, im gesichtslosen Kollektiv zu verschwinden. Eine lange Kolonne hatte sich gebildet, und die Luft war schwer wie Milch. Über ihnen summten unsichtbare Armeen von Insekten in den dunkler werdenden Bäumen.
» Ich kann das nicht«, sagte Pastor Don. Er war auf dem Weg stehen geblieben und machte plötzlich ein entsetztes Gesicht.
Wood ging auch nicht weiter. Zwanzig Meter vor ihnen sahen sie eine Reihe von Durchgangsschleusen im grellen Licht von Flutlichtscheinwerfern. Leute wurden dort abgetastet und mussten ihren Namen nennen. » Ich weiß, was Sie meinen.«
» Ich meine, Himmel noch mal. Es ist, als hätten wir das gerade hinter uns.«
Die Menge strömte an ihnen vorbei. Die beiden Franzosen warfen ihnen kaum einen Blick zu. Sie trugen ihre kümmerlichen Habseligkeiten unter dem Arm. Alle fühlten es: Hier ging etwas verloren. Sie traten beiseite.
» Glauben Sie, wir können Sprit auftreiben?«, fragte Jamal.
» Ich weiß nur, dass ich da nicht reingehe«, sagte Pastor Don.
Sie kehrten zum Bus zurück. Schon war ein Mann dabei, an der Zündung herumzufummeln. Er war dürr, und sein Gesicht war schwarz vor Dreck. Seine Augen kreisten in den Höhlen, als stehe er unter Drogen. Wood packte ihn im Nacken und stieß ihn die Treppe hinunter. Verpiss dich, sagte er.
Sie stiegen ein. Danny drehte den Schlüssel im Schloss, und der Motor dröhnte unter ihnen. Langsam setzten sie zurück, und die Menge teilte sich wie die Wellen um ein Schiff. Die Luft trank das letzte Tageslicht. Sie wendeten in weitem Bogen auf der Wiese und fuhren davon.
» Wohin?«, fragte Danny.
Niemand wusste eine Antwort. » Ich glaube, das ist egal«, sagte Pastor Don.
Es war egal. Sie verbrachten die Nacht im Valley Forge Park, schliefen neben dem Bus auf dem Boden und gingen dann auf Südkurs. Von den Highways hielten sie sich fern. Maryland, Virginia, North Carolina– sie fuhren immer weiter. Die Reise hatte ihren eigenen Sinn bekommen, unabhängig von einem Bestimmungsort. Das Ziel war, sich zu bewegen und in Bewegung zu bleiben. Sie waren zusammen, alles andere war nicht wichtig. Der Bus schaukelte unter ihnen auf müden Stoßdämpfern. Die Städte fielen eine nach der anderen, die Lichter gingen aus. Die Welt löste sich auf und nahm ihre Geschichten mit. Bald wäre sie verschwunden.
Ihr Name war April Donadio. Das Kind, das jetzt in ihr seine Wurzeln geschlagen hatte, würde ein Junge werden: Bernard. April würde ihm ihren Nachnamen geben, Donadio, und so würde er in seinem Namen ein Stück von beiden in sich tragen.
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