Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Schutz.
Kittridge kroch hinüber zu Tim, der am Boden lag. Der Junge war bewusstlos, aber er atmete– ein kleiner Segen. Seine Glieder waren in schmerzhaften Winkeln abgespreizt, sein Haar war blutverklebt, und Blut floss auch aus Mund und Nase. Kittridge erkannte, dass das Schießen aufgehört hatte. Soldaten rannten vorbei, aber es gab nichts, wohin sie rennen konnten. Ein Haufen Virals lag am Zaun, niedergestreckt von den Kugeln der Soldaten, doch als Kittridge den Blick über den Schauplatz wandern ließ, begriff er, dass der Angriff nur ein Test gewesen war, eine Vorhut, die ihre Verteidigung aufreiben sollte. Jetzt sammelte sich ein zweiter, unendlich viel größerer Schwarm. Als er tosend auf sie zukam, dehnte sich das Bild, floss wie eine schimmernde grüne Flüssigkeit um das Camp. Der letzte Ansturm würde aus allen Richtungen kommen.
Er nahm Tim von der Schulter und drückte seine Brust an sich. Sie waren mitten im Chaos, umgeben von rennenden Leuten, schreienden Stimmen, fallenden Bomben, aber als sie da im Staub kauerten, umgab sie eine lautlose Reglosigkeit wie eine Blase und beschützte sie vor aller Verwüstung. Kittridge wandte das Gesicht nach Osten. Einen kurzen Moment lang war ihm, als könne er Dannys Bus in der Dunkelheit davonrasen sehen; er wusste jedoch, dass er sich das nur einbildete. Sie waren inzwischen weg, weit außerhalb seines Gesichtsfeldes. Gute Reise, Danny Chayes. Eine tiefe Stille umschloss sein ganzes Wesen und mit ihr ein Gefühl aus der Vergangenheit, ein Déjà-vu: Er war, wo er war, und er war es doch nicht, er war hier und auch dort, er war ein spielender Junge und ein Mann im Krieg und das Dritte, das aus ihm werden würde. Bilder zuckten durch sein Bewusstsein: der Viral im Brautkleid auf der Haube des Ferraris. Funkelndes Sonnenlicht auf einem Fluss, in dem er jahrelang geangelt hatte. April in der Nacht, als sie beide in der Schule am Fenster gesessen und die Sterne angeschaut hatten. Der stille Frieden in ihrem Gesicht, als sie miteinander geschlafen hatten. Der Junge in dem Auto, dessen Augen von einem schrecklichen Wissen erfüllt waren, und die Hand, die kleine Jungenhand, die er verzweifelt nach ihm ausstreckte. All das und mehr: Seine Mutter, die ihm etwas vorsang. Ihr warmer Atem auf seinem Gesicht, das Gefühl, sehr klein zu sein, ein neues Geschöpf auf der Welt. Die Welt ist nicht mein Zuhause, sang sie mit ihrer seidigen Stimme, ich reise hier nur durch. Die Schätze warten anderswo, dort in der blauen Burg. Die Engel stehn am Himmelstor und winken mich hinein. Ich spüre schon, in dieser Welt kann ich nicht länger sein.
Tim hatte angefangen, erstickte Geräusche von sich zu geben. Seine Lider flackerten, wollten sich öffnen, bewegten sich dann nicht mehr. Die Virals hatten die Umzingelung vollendet und wogten auf den Drahtzaun zu. Kittridge merkte, dass der Lärm ringsum aufgehört hatte. Die Schlacht war zu Ende, die Flugzeuge hatten abgedreht. Dann hörte er durch die Stille und aus großer Höhe das Dröhnen eines schweren Flugzeugs. Er drehte den Kopf schräg zum Himmel. Eine C-130-Transportmaschine kam von Süden heran. Als sie über ihn hinwegzog, löste sich ein Objekt aus ihrem Bauch, und sein Fall wurde jäh durch einen aufblühenden Fallschirm gebremst. Das Flugzeug schwenkte weg und stieg höher.
Kittridge schloss die Augen. Das Ende also. Es würde binnen eines Augenblicks kommen, ein schmerzloser Abschied, schneller als ein Gedanke. Ein letztes Mal spürte er seinen Körper, die Luft in seiner Lunge, das rauschende Blut in seinen Adern, das Trommeln seines Herzschlags. Die Bombe sank ihnen entgegen.
» Ich bin bei dir«, sagte er und drückte Tim wild an sich, und er sagte es wieder und wieder, damit der Junge seine Worte hören konnte. » Ich bin bei dir, ich bin bei dir, ich bin bei dir, ich bin bei dir.«
Die Druckwelle der MOAB traf den Hubschrauber mit Grey und Lila von der Seite: ein gleißendes Licht, gefolgt von einem trommelfellzerreißenden Schlag aus Hitze und Donner. Wie von einer Brandungswelle getragen schoss der Hubschrauber nach vorn, richtete die Nase in einem 45-Grad-Winkel nach unten und wurde gleich wieder aufwärts katapultiert. Er begann sich zu drehen und kreiselte immer schneller wie ein Schlittschuhläufer auf einer Eisbahn. Als er sich um seine Achse drehte, kippte der Pilot zur Seite. Der Aufprall der Druckwelle gegen die Frontscheibe hatte ihm das Genick gebrochen. Die Kräfte, die sie in der Luft hielten,
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