Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
so, wie er sein sollte. Aber das Schlimmste war vorbei. Catherine führte sie ins Haus und die Treppe hinauf in den Raum, in dem alle Schwestern schliefen, nur Schwester Peg nicht, die als Leiterin ein eigenes Zimmer hatte. Amy zog sich aus und legte sich ins Bett.
» Kann ich noch etwas tun?« Schwester Catherine zog die Vorhänge zu.
» Mir geht’s gut.« Amy lächelte, so gut sie konnte. » Ich glaube, ich muss mich nur ein bisschen ausruhen.«
Catherine blieb am Fußende der Pritsche stehen und betrachtete sie einen Moment lang. » Du weißt, was das sein könnte, oder? Ein Mädchen in deinem Alter.«
In deinem Alter. Wenn die Schwester nur wüsste, dachte Amy. Aber sie verstand auch, was die Frau da andeuten wollte, und der Gedanke überraschte sie.
Schwester Catherine lächelte mitfühlend. » Na, wenn es das ist, wirst du es bald genug wissen. Glaub mir, wir haben es alle schon durchgemacht.«
Nachdem Amy ihr versprochen hatte, sie zu rufen, wenn sie irgendetwas brauchte, ging die Schwester hinaus. Amy ließ sich auf der Pritsche zurücksinken und schloss die Augen. Die Nachmittagsglocke hatte geläutet; unten würden die Kinder jetzt im Gänsemarsch zum Unterricht hereinkommen. Sie würden nach Sonne, Schweiß und frischer Nachmittagsluft riechen, und ein paar würden sich vielleicht fragen, was der Zwischenfall auf dem Spielplatz zu bedeuten hatte. Caleb machte sich bestimmt Sorgen um sie; sie hätte Schwester Catherine auftragen sollen, dem Jungen etwas zu sagen. Sie ist nur müde, und sie hat sich nicht wohlgefühlt. Aber sie ist bald wieder fit, du wirst schon sehen.
Andererseits: ein Mädchen in deinem Alter. War das möglich? Alle Schwestern beschwerten sich über die » Plage«, wie sie es nannten. Es war ein verbreiteter Witz im Waisenhaus, dass durch das Zusammenleben auf so engem Raum alle gleichzeitig menstruierten, sodass eine von vier Wochen zu einem Alptraum aus blutigen Tüchern und schlechter Laune wurde. Seit hundert Jahren lebte Amy in unschuldiger Ahnungslosigkeit, was diese fundamentalen Fakten anging; noch jetzt hätte sie nicht behaupten können, dass sie das Phänomen vollständig begriff, doch das Wesentliche hatte sie verstanden. Man blutete– nicht viel, aber doch ein bisschen, und das war unangenehm und dauerte ein paar Tage. Eine Zeitlang hatte Amy sich davor gegraut, nach und nach war daraus jedoch ein wildes, beinahe biologisches Verlangen geworden, und dazu kam die Angst, dass sie all das niemals erleben, dass sie in Ewigkeit im Körper eines Kindes leben würde.
Sie sah nach: Nein, sie blutete nicht. War das gut oder schlecht? Wenn Schwester Catherine recht hatte, wie lange würde es dann noch dauern, bevor es anfing? Sie wünschte, sie hätte die Gelegenheit ergriffen, die Schwester noch ein wenig auszufragen. Wie viel blutete man, wie sehr tat es weh, und inwiefern würde sie sich anders fühlen? Obwohl, überlegte Amy, in ihrem Fall nichts so sein würde wie bei allen. Vielleicht würde es schlimmer werden, vielleicht besser, und vielleicht würde es überhaupt nie passieren.
Sie wäre gern eine Frau, sähe es gern in den Augen anderer reflektiert. Es wäre schön, wenn ihr Körper wüsste, was ihr Herz längst schon fühlte.
Ein raues Miauen riss sie aus ihren Gedanken. Natürlich musste Mouser kommen und nach ihr sehen. Der alte graue Kater kam zu ihrem Bett spaziert. Er bot einen mitleiderregenden Anblick– die Augen trüb vom grauen Star, das Fell verfilzt und schmutzig, der Schwanz schlaff vom Alter. » Kommst du mich besuchen? Ja, alter Junge? Na, komm her.« Amy hob ihn vom Boden auf, ließ sich zurücksinken und setzte ihn auf ihre Brust. Sie strich mit den Händen über sein Fell, und er antwortete auf die gleiche Weise und drückte den Kopf an ihren Hals. Geht’s dir gut? Die Sonne scheint. Warum bist du im Bett? Dreimal drehte er sich um sich selbst, bevor er sich laut schnurrend auf ihrer Brust niederließ. Alles gut. Schlaf du. Ich bin hier.
Amy schloss die Augen.
Dann war es Nacht, und Amy war draußen.
Wie war sie hinausgekommen?
Sie trug ihr Nachthemd, und ihre nackten Füße waren nass vom Tau. Träumte sie? Aber wenn sie noch schlief, warum fühlte sich dann alles so real an? Sie betrachtete ihre Umgebung. Sie war in der Nähe des Damms an der flussaufwärts gelegenen Seite. Die Luft war kühl und feucht. Sie verspürte einen Rest von Dringlichkeit, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht, in dem sie gejagt worden war. Warum war sie hier?
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