Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
weg!«, kreischte die Kleine. » Ich-hasse-dich-ich-hasse-dich-ich-hasse-dich.«
Lila sah, wie der Mund des Kindes diese schrecklichen Worte formte, aber sie schienen woanders herzukommen. Sie kamen aus Lilas Kopf. Sie stürzte sich auf das kleine Mädchen, packte es um den Leib und hob es hoch. Das Kind strampelte, schrie, zappelte in ihrem Griff. Aber Lila wollte doch nur– was? Das Kind beruhigen? Die Situation unter Kontrolle bringen? Das Schreien beenden, das ihr das Gehirn zerriss? Doch jedes Quentchen Gewalt, das Lila anwandte, zahlte das Kind mit gleicher Münze heim und schrie aus voller Lunge. Die Szene wurde immer grotesker, nahm Züge des Irrsinns an, bis schließlich Lila das Gleichgewicht verlor: Ihr gemeinsamer Schwerpunkt verlagerte sich nach hinten, und sie fielen mit lautem Krachen gegen die Frisierkommode.
» Eva!«
Das kleine Mädchen schlitterte gegen den Sockel des Sofas und funkelte sie wild an. Warum weinte sie nicht? War sie verletzt? Was hatte Lila da getan? Sie kroch auf Händen und Knien auf sie zu.
» Eva, es tut mir leid, ich wollte nicht…«
» Ich hoffe, du stirbst!«
» Sag das nicht. Bitte. Ich bitte dich, sag so etwas nicht.«
Und bei diesen Worten traten dem Mädchen endlich die Tränen in die Augen, aber es waren keine Tränen des Schmerzes, der Demütigung oder wenigstens der Angst. Ich verabscheue dich in Ewigkeit. Du bist nicht meine Mutter, und du warst es nicht, und das weißt du genauso gut wie ich.
» Bitte, Eva, ich hab dich doch lieb! Weißt du denn nicht, wie lieb ich dich habe?«
» Sag das nicht! Ich will Dani!« Die kleine Lunge brachte einen erstaunlichen Lärm zustande. » Ich-hasse-dich-ich-hasse-dich-ich-hasse-dich!«
Lila presste die Hände auf die Ohren, doch nichts konnte das Geschrei des Kindes abhalten.
» Aufhören! Bitte!«
» Ich-hoffe-du-stirbst-ich-hoffe-du-stirbst-ich-hoffe-du-stirbst!«
Lila rannte ins Bad und warf die Tür zu. Aber das half nichts. Das Schreien kam von überall und übertönte alles. Sie lag auf den Knien und schluchzte in ihre Hände. Was passierte mit ihr? Meine Eva, meine Eva. Was habe ich getan, dass du mich so sehr hasst? Sie zitterte vor Schmerz am ganzen Leib. Ihre Gedanken schwirrten umher; etwas brach plötzlich in ihr zusammen, und Lila Kyle lag zu einer Million Scherben zersplittert auf dem Badezimmerboden.
Denn das Mädchen war nicht Eva. Sosehr Lila sich auch wünschte, daran etwas zu ändern: Es gab keine Eva. Eva war fort für immer, ein Geist aus der Vergangenheit. Das wusste Lila jetzt. Das Wissen durchströmte sie wie eine Säure und brannte alle Lügen weg. Geh zurück, dachte Lila, geh zurück. Aber sie konnte nicht mehr in ihr altes Leben zurück. Nie mehr.
O Gott, was für schreckliche Dinge sie getan hatte! So schreckliche, unverzeihliche Dinge! Sie weinte und zitterte. Sie weinte bittere Tränen, wie ihr Vater immer gesagt hatte, während er Farbe auf seine kleinen Schiffe strich. Sie war ein grauenhafter Mensch. Sie war Teil des Bösen, beschmutzte das Angesicht der Erde. Alles wurde ihr offenbart. Die Zeit war stehen geblieben und erzählte ihre schändliche Geschichte.
Ich hoffe, du stirbst, hatte das Mädchen gesagt. Und Lila wollte es auch.
Dann geschah noch etwas anderes. Lila saß auf dem Rand der Badewanne. Sie war in einen Zustand jenseits des Wollens geraten; sie entschied nichts mehr, alles ging wie von selbst. Sie drehte den Hahn auf. Sie hielt die Hand in den Strahl und sah zu, wie das Wasser zwischen ihren Fingern hindurchfloss. Da war sie also, dachte sie. Die dunkle Lösung. Es war, als habe sie es immer gewusst. Als habe sie diesen letzten Akt in den tiefsten Nischen ihrer Seele schon hundert Jahre lang immer wieder vollzogen. Natürlich würde die Wanne das Mittel sein. Stundenlang hatte sie in ihrer Wärme gelegen, Jahrzehnte waren in ihrer tröstlichen Umhüllung vergangen, im köstlichen Vergessen der Welt, und immer hatte sie ihr zugeraunt: Hier bin ich, Lila. Lass mich deine letzte Erlösung sein. Der Dampf wirbelte herauf und vernebelte den Raum mit den Wolken seines feuchten Atems. Perfekte Ruhe umfasste sie. Sie zündete die Kerzen an, eine nach der anderen. Sie war Ärztin; sie wusste, was sie tat. Soy médico. Sie zog sich aus und betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Seine Schönheit– denn er war schön– erfüllte sie mit Erinnerungen an ihre Jugend und daran, wie sie, selbst ein Kind, aus der Wanne gekommen war. Du bist meine Prinzessin, hatte ihr
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