Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
gehüllt. Als er näher kam, fiel das Licht der Notbeleuchtung auf sein Gesicht. Sein Hemd war blutdurchnässt.
Lawrence?
» Nicht.« Der Mann mit der Pistole schleifte Lila rückwärts mit sich und bohrte den Lauf tief zwischen ihre Rippen. Seine Schritte waren unsicher, stockend, und er zitterte wie Espenlaub. Es sah aus, als würde er jeden Augenblick hinfallen. » Halten Sie Abstand.«
Grey streckte klagend die blutigen Hände aus. » Lila, ich bin’s.«
Grauen, Ekel, eine schützende geistige Taubheit angesichts des Grauens, das sich hier abspielte– das alles verband sich in Lilas Kopf und ließ sie in blicklosem Entsetzen erstarren. Körper und Geist waren nur noch peripher miteinander verbunden. Wie durch einen Nebel erkannte sie, was die Schreie aus dem Zimmer bedeutet hatten. Wenn der Zustand seines Hemdes irgendwelche Schlüsse zuließ, dann hatte Lawrence den kleineren Mann nicht nur umgebracht, sondern in Stücke gerissen. Was irgendwie einleuchtete; Lila hätte es kommen sehen müssen. Sie erinnerte sich an den Panzer. Sie erinnerte sich an Lawrences Gesicht, eine Maske aus Blut, eine Art Halloween-Horror, mit der er aus der Luke heraufgekommen war, und sie erinnerte sich, wie das Glas der Seitenscheibe am Volvo unter seiner Faust zersplittert war. Lawrence hatte sich in ein Monster verwandelt. Er war eins von diesen… Wesen geworden. (Armer Roscoe.) Und doch, da war etwas in seinen Augen, das ihr sagte, sie solle keine Angst haben. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Es war, als bohrten seine Augen sich in sie hinein und leuchteten mit einem beinahe heiligen Licht.
» Wissen Sie nicht, was hier los ist?«, sagte der Mann. » Wir müssen hier raus.«
» Lassen Sie sie los.«
Noch eine Explosion kam von oben, und eine schwere Druckwelle zog durch den Boden. Glas fiel herab, alles schien in sich zusammenzustürzen. Der Lauf der Pistole presste sich an ihre Rippen wie ein eisiger Finger, der auf ihr Herz gerichtet war. Der Mann deutete mit dem Kopf zu einer Ecke des Raumes.
» Die Treppe hinauf. Da wartet ein Hubschrauber.«
» Legen Sie die Pistole weg, und ich komme mit.«
» Verdammt, wir haben keine Zeit für so was!«
Irgendetwas passierte mit ihr. Es war eine Art Erwachen, und es lag nicht nur an der Pistole. Es war, als käme sie nach jahrelangem Schlaf wieder zu Bewusstsein. Wie dumm sie gewesen war! Das Kinderzimmer anstreichen, was für eine Idee! So tun, als machten sie einen Ausflug aufs Land, als könnte das irgendetwas ändern! Denn David war tot, und Eva war tot wie Brad, dem sie das Herz gebrochen hatte. Sie hatte sich eingeredet, die Welt gehe nicht unter, weil sie es schon getan hatte. Und hier war dieser Mann, dieser Lawrence Grey, der zu ihr gekommen war wie ein Erlöser, wie ein Engel, der sie in Sicherheit bringen würde, als wäre das Kind in ihrem Leib das Seine, und sie wusste, was sie sagen musste.
» Bitte, Lawrence. Tu, was er verlangt. Denk an unser Baby.«
Ein bedeutungsschwerer Augenblick folgte, und alles hielt inne, als sei es plötzlich außerhalb des Stroms der Zeit. Lila sah die Frage in Lawrences Gesicht. Konnte er an die Pistole kommen, bevor der Mann schoss? Und wenn ja, was dann?
» Okay«, sagte er. » Zeigen Sie uns den Weg nach draußen.«
Als sie auf dem Dach ankamen, kreisten die Rotorblätter des Hubschraubers und ließen einen Wirbelwind über das Dach wehen. Der Himmel glühte von einem gespenstischen, smaragdgrünen Licht wie im Inneren eines Treibhauses. Es sah aus, als wollte der Hubschrauber ohne sie starten– eine letzte Ironie des Schicksals–, aber dann sah Lila, dass der Pilot im Cockpit ihnen drängend zuwinkte. Sie kletterten an Bord, und Guilder schlug die Luke hinter ihnen zu.
Sie hoben ab.
Kittridge wurde klar, dass er mit dem Gesicht im Dreck lag. In seinem Mund war der Geschmack von Blut. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, und merkte, er hatte nur eins: Seine Prothese war weg. Er hob das Gesicht und sah den Humvee hundert Meter weiter auf der Seite liegen wie ein gestrandetes Seetier. Die Frontscheibe war zertrümmert, und Dampf stieg unter der Haube und am Fahrgestell auf. Die Meute war darüber hergefallen wie ein Rudel wilder Tiere; ein paar Leute versuchten, ihn wippend wieder auf die Räder zu kippen, aber sie taten es unorganisiert und von allen Seiten. Andere standen oben auf dem Fahrzeug. Sie stießen und traten einander weg und verteidigten ihre Plätze, als biete der bloße Besitz eines solchen Wagens ihnen
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