Die Zypressen von Cordoba
einen Stapel alter Säcke.
Amram gab Natan den letzten Schluck Wasser aus seiner Kürbisflasche und
den Rest seines Proviants, den er aus Málaga mitgebracht hatte. Dann
wartete er schweigend, bis Natan die Kraft zum Sprechen aufbrachte.
Mit hängenden Schultern preßte sich Natan den Daumen an die
Schläfe und fuhr sich mit den Fingern über die Augen, als wolle er die
Bilder auslöschen, die noch immer vor ihm standen. Aber es nutzte
nichts. Schließlich murmelte er: »Es war ein unglaubliches Gemetzel.
Zunächst hat man uns hier in Frieden gelassen, obwohl wir uns schon
denken konnten, was für Greueltaten begangen wurden, weil der Wind das
Heulen und Wehklagen aus der Stadt zu uns trug und die Flammen hoch in
den Himmel loderten und über dem Leichnam der Stadt dichten Rauch wie
ein schwarzes Leichentuch ausbreiteten. Die Verwundeten kamen in
Scharen zu uns, Berber und Cordobaner gleichermaßen. Wir arbeiteten Tag
und Nacht, um zu helfen, wo wir konnten. Doch dann, als in der Stadt
niemand mehr war, den sie hätten töten können, kamen sie, immer noch
blutrünstig, hierher gestürmt. Die Verwundeten haben sie ohne Ansehen
der Person niedergemetzelt, ganz gleich, ob es ihre eigenen
unglückseligen Soldaten oder ausgehungerte Verteidiger unserer
geliebten Stadt waren.« Natan schluckte und legte eine kleine Pause
ein, ehe er weitersprach.
»Als sie Vater erblickten, kreischten sie wilde
Anschuldigungen, er hätte ihre Feinde behandelt, und töteten ihn auf
der Stelle, wo er gerade kniete und einem Mann von unbekannter Herkunft
die Todespein zu lindern versuchte. Was sie vor meinen Augen mit Mutter
gemacht haben«, und hier brach ihm die Stimme, »war so grauenhaft, daß
ich es nicht in Worte fassen kann.«
»Und du?«
»Mich haben sie verschont, unter der Bedingung, daß ich mit
ihnen in die Stadt zurückging und dort einen ihrer Anführer behandelte,
auf den aus einem brennenden Haus ein schwelender Balken herabgefallen
war. Das Haus …« Natan unterbrach sich noch einmal, wurde von
wildem Schluchzen geschüttelt. Nicht einmal Tränen wollten fließen, um
das Grauen zu lindern. »Das Haus«, stammelte er schließlich, »war
unseres. Als ich ihnen sagte, der Verwundete würde noch einen oder zwei
Tage nicht im Sattel sitzen können, wurden meine Geiselnehmer
ungeduldig und galoppierten auf der Suche nach weiteren Opfern davon.
Ihre Blutrünstigkeit hat mir das Leben gerettet.«
Benommen vor Grauen standen die Brüder auf, vereint in ihrem
Schmerz, wie sie es in ihrer Kinderzeit nie gewesen waren. Zusammen
nahmen sie die Spaten, die im Schuppen lagen, und gruben am Fuß der
Zypressen an der Grundstücksgrenze der Ibn Yatoms ein Doppelgrab. Sie
bahrten die Leichname auf, so gut sie konnten, wickelten sie in den
Gebetsschal ihres Vaters, den sie wunderbarerweise unberührt in einer
kleinen Truhe fanden. Zusammen trugen sie die Leichen zu ihrem Grab und
legten sie sanft in die Erde. Erst jetzt flossen Natans Tränen. Er barg
den Kopf an der mächtigen Schulter seines Bruders und weinte, bis er
nicht mehr konnte.
»Und jetzt?« fragte Amram schließlich. »Was jetzt?«
»Für mich gibt es keine Frage«, antwortete Natan. »Mein Platz
ist hier, meine Aufgabe ist es, unser Heim wieder aufzubauen und alles
neu zu pflanzen. Von der Apotheke ist nichts mehr übrig. Alle Tiegel,
Töpfe und Flaschen sind zerbrochen, als die Horden durch das Haus
trampelten. Wichtiger noch, ich muß Vaters wissenschaftliche Studien
dort fortsetzen, wo er aufgehört hat, vielmehr versuchen, sie
nachzuvollziehen, den Weg noch einmal gehen, den er so mühsam
zurückgelegt hat.«
»Wieso noch einmal gehen?«
»Weil, mein lieber Bruder, seine sorgfältigen Aufzeichnungen
zusammen mit unserem Haus in Córdoba in Flammen aufgegangen sind, wo er
sie aufbewahrt hat – ein kleines Unglück unter unseren
augenblicklichen Lebensumständen, ein ungeheurer Verlust, wenn man es
aus einer weiteren Perspektive betrachtet. Und du?« fragte er seinen
Bruder mit ernster Stimme.
»Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht. Das einzige, was ich
will, ist Macht, Macht, die ich ausüben will, um all die zu schützen,
die mir lieb und teuer sind. Wo immer Macht ist, ich werde sie suchen
und mir meinen Anteil daran sichern.«
»Aber wo liegt die Macht? Gestern bei den Slawen, die Córdoba
im Namen des Kalifen regierten, heute bei den Berbern, morgen bei den
alteingesessenen arabischen und muslimischen Andalusiern von Sevilla.
Die dort aufstrebende
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