Die Zypressen von Cordoba
kalter,
intellektueller Logik und religiösem Glauben spekulieren, konnte ganz
offen seine Leidenschaft für erstere und seine tiefe Skepsis gegenüber
dem letzterem zum Ausdruck bringen, eben wegen dieser unauslöschlichen,
tief verwurzelten Unterschiede zwischen ihnen beiden. Nur weil al-Hakam
sicher war, daß kein Sterbenswörtchen über seine inneren Zweifel je den
stets aufmerksamen Imamen zu Ohren kommen würde, gestattete er es sich
überhaupt, seine ketzerischen Gedanken dem jüdischen Vertrauten
mitzuteilen.
»Ich ertappe mich manchmal bei der Überlegung«, gestand ihm
al-Hakam einmal mit einem traurigen, schuldbewußten Lächeln, wie ein
Kind, das man beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt hatte, »daß unsere
antiken Vorväter recht hatten, als sie Götter mit menschlichen
Eigenschaften anbeteten, höhere Wesen, die Krieg führten und Frieden
schlossen, liebten und haßten, nach Belieben Belohnungen und Strafen
austeilten. Es fällt mir leichter zu glauben, daß wir nach ihrem
Ebenbild geschaffen sind als nach dem Ebenbild eines gnädigen, guten
Gottes, einer einzigen Gottheit. Es fällt mir leichter, die Menschheit
als das Spielzeug kapriziöser Götter zu sehen denn als Spielzeug Eures
Jahwe, des Jesus der Christen oder unseres Allah. Denn wenn wir nur
Marionetten im kosmischen Theater des Einzigen und Wahren Gottes sind,
wie soll man all das Elend erklären, das auf der Erde existiert?«
»Ja, wie«, erwiderte Da'ud unverbindlich, wollte nicht
zugeben, daß der gleiche Zweifel auch an ihm nagte. Wie gründlich sein
Volk im Exil Elend und Leiden kennengelernt hatte! Jederzeit konnten
Unterdrückung und Verfolgung die Juden treffen, sie, die landlose
Minderheit, die den Völkern ausgeliefert war, bei denen sie zu Gast
lebte, und die daher jederzeit als Opfer herhalten mußte, an dem man
allen Unmut auslassen konnte. Und doch, trotz allem glaubten sie
unerschütterlich, waren sie trotzig immer noch davon überzeugt, das
Auserwählte Volk Gottes zu sein …
Wäre das Los der Juden ein anderes gewesen, wären nicht die
Gemeinden in al-Andalus auf ihn angewiesen, auf ihn, den Anführer und
Beschützer vor derlei Anfechtungen, er, Da'ud ibn Yatom, hätte sich nur
zu bereitwillig aus der Welt zurückgezogen, in die ihn sein Schicksal
geführt hatte, hätte nur zu gern auf alle Ehren und Reichtümer, auf die
Macht und den Ruhm verzichtet, die man ihm gegeben hatte, und sich dem
einfachen, sorglosen Leben der Gelehrsamkeit gewidmet. Ein solches
Leben, frei von jeglicher Verpflichtung für seine jüdischen Brüder,
wäre möglich gewesen, wenn die Juden ein eigenes, unabhängiges
Königreich besessen hätten.
Während seine Gedanken so wanderten, erinnerte sich Da'ud an
einen Abschnitt, den er in der Geographie des Abu Ishak al-Istrakhri
gefunden hatte, in einem Band, den er kürzlich für die Bibliothek des
Kalifen erworben hatte. Dort wurde kurz ein jüdischer Chakan erwähnt,
der vor etwa zweihundert Jahren die Chasaren regiert hatte, einen
mächtigen Turkmenenstamm, der irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem
Kaspischen Meer lebte. War Chasarien ein unabhängiges jüdisches
Königreich gewesen? Existierte es noch? Wie und wann, wenn überhaupt,
hatten sein Herrscher und dessen Untertanen die Gesetze Moses
angenommen? Sollte er einen Gesandten zum Chakan jenes fernen Reiches
schicken? Wenn es ein solches jüdisches Königreich gab, dann würde er
nur zu gern seine Bürde niederlegen und mit Sari und dem geliebten Sohn
dorthin ziehen, um so zu leben, wie es seiner Natur entsprach.
Ehe die Gesandten des Kaisers Otto, die zur Zeit am Hof des
Kalifen von Córdoba weilten, nach Deutschland zurückkehrten, würde er
vielleicht Menahem in seinem eleganten Hebräisch einen Brief an den
Herrscher von Chasarien verfassen lassen und darin all die Fragen
stellen, die ihn bewegten. Wenn man sie angemessen entlohnte, würden
die beiden jüdischen Mitglieder der Delegation sicherlich Wege finden,
dieses Schreiben an seinen Bestimmungsort zu befördern. Falls er eine
befriedigende Antwort erhielte, mit welcher Freude würde er über Berg
und Tal, Land und See reisen, um zu jenem Ort zu gelangen, wo der
Friede und die Ruhe Israels herrschten.
20
D er Winter war streng gewesen, kälter und
stürmischer als jeder andere Winter in al-Andalus seit
Menschengedenken. Beim ungewohnten Anblick von Schnee, der sich wie
Schaum über die milden Gärten von Córdoba breitete, rannten die Kinder
vor Freude jauchzend ins Freie. Die
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