Dieb meines Herzens
weniger als ein königlicher Befehl.
Leona stand im Eingang und sah Victoria an, die an einem zierlichen kleinen Schreibtisch saß.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Leona höflich.
»Ja. Zappeln Sie nicht draußen auf dem Gang herum. Treten Sie ein, und schließen Sie die Tür.«
Leona, die sich wie ein Dienstbote vorkam, befolgte die Aufforderung.
»Ich möchte Sie in einer persönlichen Angelegenheit sprechen«, kündigte Victoria an.
Genug ist genug, dachte Leona. Es war ja nicht ihre Idee gewesen, sich als Gast in diesem Haus einzuquartieren.
»Wenn es um meine Beziehung zu Mr Ware geht«, sagte sie kalt, »habe ich nicht die Absicht, sie mit Ihnen zu diskutieren.«
Victoria verzog das Gesicht. »Zu diesem Thema habe ich nichts zu sagen. Es ist sonnenklar, dass ihr beide geschaffen seid, ein Liebespaar zu sein. Das ist eine ganz andere Sache.«
»Ich verstehe«, sagte Leona nun völlig verwirrt.
»Soviel ich weiß, sind Sie eine Art Expertin für Träume und Schlaflosigkeit.«
Leona dachte an das Licht, das letzte Nacht so lange unter Victorias Tür zu sehen gewesen war.
»Ich habe ein gewisses Talent, die negative Energie zu beeinflussen, die jemanden am erquickenden Schlaf hindert«, gestand sie vorsichtig ein.
»Sehr gut. Ich möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen.«
Leona schluckte. »Nun …«
»Sofort.«
»Hmmm …«
»Gibt es ein Problem, Miss Hewitt?«
»Oh nein, es gibt kein Problem«, sagte Leona rasch. »Ich hatte nur den Eindruck, dass Sie mich nicht billigen.«
»Das steht jetzt nicht zur Debatte. Betrachten Sie mich als Klientin.«
Leona betrachtete die Situation aus jedem möglichen
Blickwinkel und sah keinen Ausweg, zumindest keinen, der nicht ein Quäntchen Feigheit beinhaltete. »Du musst dein Publikum beherrschen. Lass nie zu, dass dein Publikum dich beherrscht .«
»Also gut«, sagte sie in ihrem professionellsten Ton. »Was ist Ihr Problem?«
Victoria erhob sich. Ihre Haltung war so aufrecht wie immer, doch enthüllte die Morgensonne ein Netzwerk von Falten und Runzeln in ihrem Gesicht. Als sie ans Fenster ging, spürte Leona die Aura der Mattigkeit an ihr.
»Seit dem Tod meines Mannes habe ich keine einzige Nacht gut geschlafen, Miss Hewitt. Wenn ich das Licht lösche, liege ich wach da, manchmal stundenlang. Wenn ich endlich einschlafe, plagen mich dunkle Träume.« Sie ballte eine Handvoll Vorhang fest zusammen. »Manchmal wache ich in Tränen gebadet auf. Machmal …«
»Ja?«
»Manchmal denke ich, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufwachen möchte«, flüsterte Victoria.
Kummer und Schmerz dieser Klage fegten Leonas Ärger und ihre Vorbehalte dieser Frau gegenüber hinweg. Mit einem Wimpernschlag war Victoria zu einer Klientin geworden.
Leona trat nun ganz ein und schloss die Tür hinter sich.
»Das höre ich von vielen, die zu mir kommen«, sagte sie leise.
»Sicher halten Sie mich für schwach.«
»Nein.«
»Ich bin eine alte Frau, Miss Hewitt, doch ein gutes Leben liegt hinter mir. Ich war ungemein begünstigt, was meine Gesundheit und meine Familie betrifft, die mir ein komfortables Zuhause bietet, in dem ich die mir noch verbleibenden
Tage verbringen kann. Warum kann ich nicht schlafen? Und warum muss ich so verstörende Träume ertragen, wenn ich es endlich schaffe einzuschlafen?«
Leona umfasste das Tagebuch ihrer Mutter fester. »Jedes Leben bringt Verluste. Je länger man lebt, desto mehr Verluste muss man hinnehmen. Das ist der Lauf der Welt.«
Victoria wandte den Kopf um und sah sie lange und nachdenklich an. »Ich sehe Ihnen an, dass auch Sie, obschon noch nicht dreißig, Verluste erlitten.«
»Ja.«
Victoria blickte wieder hinaus in den Garten. »Zusammengenommen ist die Summe der Verluste nach so vielen Jahren niederschmetternd. Ich überlebte meine Eltern, einen Bruder, meinen lieben Mann, eine meiner Töchter und das Neugeborene, das mit ihr im Kindbett starb, dazu eine große Zahl von Freunden.«
»Meine Mutter war überzeugt, dass es die schiere Häufung der Verluste ist, die einem in vorgerückten Jahren den Schlaf raubt. Das Gewicht all dieser negativen Energie fordert ihren Tribut. Man muss sie mit positiven Gedanken bekämpfen.«
»Mit positiven Gedanken?«
»Wir Kristallmedien kennen die Kraft, die von Gedanken ausgeht. Sie enthalten Energie. Negative Energie erzeugt immer wieder mehr negative. Positive Energie kann der negativen entgegenwirken. Sagen Sie mir, Madam, woran Sie denken, wenn Sie nachts wach
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