Diebeswelt Sonderband: Der dunkle Held
rief Hanse. »Wozu braucht ihr dann einen
Fassadenkletterer, wenn du uns durch die Vordertür hereinlassen
könntest?«
»Weil Corstic das gesamte obere Stockwerk abschließt,
sobald er herunterkommt, und ich weiß, daß die Türen
mit Schutzvorrichtungen versehen sind. Es muß von außen
geschehen.«
»Huh!« Hanse wandte sich ab und drehte sich dann wieder
zu ihnen um, wobei er seinen schwarzen Mantel theatralisch flattern
ließ. »Noch etwas, das sich niemand die Mühe
gemacht hat, mir mitzuteilen! Ich denke, wir sollten vielleicht bis
zum nächsten Gantag warten, damit wir sehen, ob euch nicht noch
etwas einfällt, wovon dieser arme Südländer immer noch nichts weiß.«
Sie sahen einander an. Schließlich meldete sich Thuvarandis
zu Wort.
»Das ist die ganze Geschichte, Nachtschatten. Ich
schwöre es. Und du hast recht. Letzte Nacht waren wir uns
über dich noch nicht sicher genug. Jetzt ist es offensichtlich,
daß du den ganzen Tag für uns und dieses Projekt
gearbeitet hast. Ich will mich gerne noch einmal entschuldigen, aber
du bist ein vorsichtiger Mann und wirst unsere Vorsicht verstehen.
Würdest du bitte fortfahren?«
»Kurzer«, sagte Hanse, nachdem er alle mit einem Blick
bedacht hatte, »alles, was ich von dir will, ist, daß du
einen Pfeil mit einem langen Seidenseil über einen Giebel oder
einen anderen Vorsprung über einem bestimmten Fenster
schießt. Thuvarandis hat das Seil.«
Hanse hielt inne und blickte den großen Mann an. Thuvarandis
bückte sich, grunzte und kam wieder mit einem langen,
aufgerollten Seil hoch.
»Sehr schön«, sagte Hanse. »Kurzer, schaffst
du das? Ich bin kein Experte im Bogenschießen, aber mit einem
Pfeil kann man sehr gut ein Kletterseil in große Höhe
befördern. Das habe ich selbst schon gemacht.«
»Das kann ich machen, Nachtschatten.«
»Was bedeuten diese Markierungen auf der Karte,
Meister?« wollte Thuvarandis wissen.
»Dieser große, gezackte Kreis bezeichnet eine Stelle,
an der das Gras anders als der Rest aussieht. Das macht mich
mißtrauisch, und ich habe vor, dieser Stelle fernzubleiben.
Dieses X ist ein Kräutergarten.«
»Warum hast du den Kräutergarten markiert?« fragte
Malingasa.
Hanse hatte ihnen alles erzählen wollen, was er gesehen, sich
überlegt und welche Schlußfolgerungen er daraus gezogen
hatte. Jetzt dachte er: Zu den sechs Höllen mit ihnen. Laut sagte er lediglich: »Wer weiß, welche
interessanten Kräuter ein Meistermagier anbauen könnte,
hmm?«
Thuvarandis hatte sich gegen die Wand gelehnt, die langen Beine
überkreuzt. »Du gehörst wirklich zu der vorsichtigen
Sorte, Meister.«
»Ich bin genau das, was du mich nennst, Thuvarandis. Ich
werde euch eine Geschichte erzählen, und ich werde mich
kurzfassen. Ein Freund von mir geriet einmal in die Hände eines
wahren Monsters. In die Hände eines Schweines, dem es Spaß
machte, Menschen zu fesseln und ihnen dann bei lebendigem Leibe
kleine Teile abzuschneiden. Einen Daumen hier und eine Scheibe dort,
einen Hautstreifen hier, eine Nase oder ein paar Zehen dort. Ich
stieg in sein Haus, um meinen Freund zu befreien. Gerade als ich
dachte, es sei die einfachste Sache der Welt, und durch ein paar
zarte Ranken schlüpfte, um zu einem Fenster hinaufzusteigen,
wurden diese Ranken lebendig. Die zarten Zweige schlangen sich um
mich wie eine ganze Horde Schlangen. Würgeschlangen. Also,
Kurzer, beschäftigt sich Corstic mit seinem Grundstück?
Arbeitet er ein bißchen im Garten?«
»J-jaaa«, sagte Kurzer mit leiser und beinahe zitternder
Stimme.
Hanse zuckte die Achseln. »Das klingt ja nicht gerade
ermutigend. Wenn ich fliegen könnte, würde ich nicht einen
Fuß auf diesen Boden setzen. Jetzt habe ich eine andere Frage.
Ich bin lange Jahre ein Einzelgänger gewesen, und man hat mich
nie erwischt. Der Mann, auf den wir es abgesehen haben, wird nicht zu
Hause sein, und alle seine Hunde und Diener werden schlafen. Die
Aufgabe ist es, in den zweiten Stock zu gelangen, eine kleine Statue
herauszuholen und mich wieder aus dem Grundstück zu bringen. So
wie ich das sehe, könnten Kurzer und ich alles alleine
erledigen. Warum also werden sich noch fünf andere dort
herumtreiben? Um Kurzer und mich zu beobachten? Oder als Henker, um
das Werkzeug zur Seite zu schaffen, nachdem es benutzt worden
ist?«
Malingasa fuhr so schnell in die Höhe, daß sein Stuhl
umkippte. Die Hand über den Bauch und an den Schwertgriff
gelegt, starrte er in Hanses nachtschwarze Augen. Hanse
Weitere Kostenlose Bücher