Diebeswelt Sonderband: Der dunkle Held
Ich nehme
an, daß sie auf dem kürzesten Weg in ihr Lager wollen,
oder wo sie sich sonst aufhalten, und Quesh weiß, daß ich
ihn beobachte. Deshalb glaubt er, mich auf eine falsche Fährte
locken zu können. Er wird bald in ihre Richtung abbiegen, nach
links, glaube ich. Das möchte ich sehen.«
»Hanse«, flüsterte sie gegen seine Brust.
Er drückte sie. »Eine Minute noch, Mignue. Laß
mich nur noch diesen… schäbigen… Hundesohn…
beobachten…«
»Hanse…«
»Uh. Bitte, Mignue – ich muß jetzt
rennen!«
Er gab sie urplötzlich frei und rannte los, raste auf die
Erhebung zu, auf die Quesh gedeutet hatte. Während sich
Mignureal verblüfft umdrehte, um ihm nachzuschauen, rannte er
davon, als sei ihm eine ganze Horde Dämonen auf den Fersen.
Mignureal wirkte einsam und verloren. Und plötzlich sprang ein
roter Blitz in ihr Blickfeld und jagte hinter Hanse her. Wunder
folgte ihm mit hochgerecktem Schwanz.
»Hanse«, murmelte sie mit schwacher Stimme.
Sie sah, daß es wirklich nicht weit bis zur Düne war.
Kaum eine Minute später begann Hanse, sie zu erklimmen. Er
rutschte und torkelte und kletterte sie schließlich in einem
schrägen Winkel empor. Wunder behielt weiter den geraden und
kürzesten Weg bei, und beide erreichten den Kamm gleichzeitig.
Dort verharrte Hanse, um nach Norden zu spähen. Unter anderen
Umständen hätte sie es komisch oder niedlich gefunden,
daß Wunder genau das gleiche tat, den Schwanz steil in die Luft
gestreckt. Die halbe Minute, die nun folgte, erschien Mignureal
fünfzigmal so lang. Sie fühlte sich verletzt, man hatte sie
des Silbers, ihrer Würde und ihres Mannes beraubt. Dann sah sie,
daß Hanse wie entzückt die Hände zusammenschlug.
Sofort wandte er sich zu ihr um und bedeutete ihr mit heftigen Gesten
zu folgen.
Eine Oase, dachte sie und blickte sich um. Da waten nur
aufgewühlter Sand und der Esel. Sie hob den Kupferreif auf, den
Quesh Hanse zugeworfen hatte. Ein bißchen schwer und
unförmig durch die vierzig oder fünfzig Silbermünzen,
die überall in ihrer Kleidung verteilt waren, ging sie zu dem
Onager und ergriff seine Leine.
»Komm mit, Enas«, sagte sie. »Wir holen uns einen
schönen Schluck Wasser und vielleicht sogar ein bißchen
Gras, einverstanden?«
Enas hatte seinen einsichtigen Tag – oder seine einsichtige
Minute –, er folgte ihr, ohne zu bocken. Sie sah, daß sich
Hanse abgewandt hatte, um wieder nach Nordwesten zu schauen.
Mignureal seufzte, trottete los und wünschte sich, er würde
den Anstand besitzen, sie nicht sich selbst zu überlassen. Es
schien ihr einen Tag zu dauern, bis sie den Fuß der Düne
erreicht hatte und sich zu Hanse hinaufkämpfte. Doch nachdem sie
den Gipfel des großen Sandhügels erklommen hatte (Bedeckte
der Sand vielleicht nur einen großen Felsen? Sie hatte keine
Ahnung.), vergaß sie alles andere. Unterhalb der Düne
erblickte sie ein richtiges kleines Wäldchen, das teilweise eine
Grasfläche umgab, sich aber hauptsächlich jenseits davon
weiter nach Norden erstreckte. Inmitten des Sandes, der es von allen
Seiten bedrängte, wirkte es beinahe tiefgrün. Und mitten in
der Grasfläche, ungefähr im Zentrum der länglichen
Oase – lag ein beachtlicher Teich!
Mignureal starrte gebannt geradeaus und überhörte
deshalb Hanses Worte und vergaß Enas. Zum Glück hatte sie
seine Leine losgelassen, sonst wäre sie mitgeschleift worden.
Der Onager trompetete glücklich und lief torkelnd den Abhang
hinunter auf die Oase, auf die choom zu.
»… hatte ich also völlig recht«, sagte Hanse
gerade aufgeregt. Er hatte sich erneut umgedreht, um wieder nach
Nordwesten zu schauen. »Sie sind alle direkt nach…
Mignue?« Er wirbelte herum. »Mignureal!«
»Mraur?«
Er hört sich genau wie Vater an, dachte sie und rannte
dem dämlichen Esel hinterher. Nach zehn Schritten hatte sie das
weiße Gewand abgestreift und ließ es hinter sich zu Boden
flattern. Dann begann sie, ihre Weste aufzuknöpfen. Sie
stürzte, überschlug sich, kam lachend wieder auf die
Füße und ließ die Weste fallen. Im Rennen zog sie
sich die grün, blau, gelb und braun gemusterte Bluse aus.
Hanse legte die Hände trichterförmig um den Mund.
»Schlaang-gen!« schrie er ihr hinterher und dachte: Sie
hat den Verstand verloren!
»Na und? Sollen sie doch zugucken!« rief Mignureal
kichernd zurück. Eine weitere Bluse flatterte hinter ihr durch
die Luft.
Als Hanse das Ufer des Teiches erreicht hatte und sich ein letztes
Mal bückte, schleppte er ein
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