Diebeswelt Sonderband: Der dunkle Held
Ruinen gesagt, die eine Nacht lang zu einem
funkelnden Audienzsaal geworden waren. Seine Stimme zitterte, denn er
sprach zu den Göttern.
Er sprach zu dem mächtigen Glühen, das Ils der Allvater
war, Ils der Tausendäugige, zu Ihm, dem Gott von Hanse dem
Ilsiger und seinem Volk; und er sprach zu der Finsternis, die Shalpa
der Namenlose war, Shalpa von den Schatten, der Gestalt gewordene
Schatten, Schutzpatron der Nacht und der Diebe, Sohn von Ils und
Vater von Hanse, dessen Mutter eine Sterbliche gewesen war, so
daß Hanse wirklich und wahrhaftig von den Schatten gezeugt
worden war; und er sprach zu Eshi, Ils’ Tochter, Göttin der
Schönheit und der Liebe, die ihn, den Halbgott, wirklich sehr
gerne mochte.
Und sie schenkten ihm Gehör, denn sie waren die Götter
der Ilsiger und Freistatts, und Vashanka war ein Gott des
kaiserlichen Rankes und dessen Imperiums. Und doch hatte Hanse als
Beauftragter dieses Trios etwas vollbracht, was sie ohne seine Hilfe
nicht hätten tun können: Der Halbgott hatte Vashanka
vernichtet und dessen Macht gebrochen und so den Zusammenbruch des
Imperiums eingeleitet.
Und dann trug er ihnen sein Begehren vor, seine Wünsche
für sein weiteres Leben, die zu erfüllen sie ihm
versprochen hatten.
»Als erstes wünsche ich mir, daß weder ich noch
sonst irgend jemand, der mir nahe steht und mir wichtig ist, jemals
den genauen Zeitpunkt meines unumstößlichen Todes
erfährt.«
Er hatte seinen Wunsch sorgfältig formuliert, und sie
verstanden. Sie wußten von Mignureal und ihrer angeborenen
Fähigkeit des Hellsehens, denn sie waren Götter.
»Als zweites wünsche ich mir die bestmöglichen
Fähigkeiten im Umgang mit Waffen sowie Glück und
Gesundheit.«
Dies war ein guter Wunsch und klug vorgetragen, und die
Götter waren erfreut.
Über seinen dritten Wunsch hingegen waren sie überhaupt
nicht erfreut. Der Jüngling, den man Nachtschatten nannte, hatte
ihn sich gründlich überlegt, nachdem zehn Tage lang jeder
seiner Wünsche in Erfüllung gegangen war. Er hatte seine
Entscheidung getroffen, auch wenn es für ihn eine große
geistige Qual gewesen war.
»Als drittes«, sagte er mit fester Stimme,
»wünsche ich mir, alles zu vergessen, was geschehen ist.
Alles, was ich seit jenem Tag getan, gedacht und mir gewünscht
habe, als Ihr mich zum ersten Mal in der Vashanka betreffenden
Angelegenheit aufgesucht habt. Alles mit Ausnahme eines Traumes, den
ich mit Mignureal, der Tochter der S’danzo, teile.«
Shalpa, der Gestalt gewordene Schatten, war beleidigt, daß
sein Sohn nichts mehr von ihrer Verwandtschaft wissen wollte. Und er
sagte und zeigte es auch, denn er war ein leidenschaftlicher und
eifersüchtiger Gott.
Auch Eshi erhob Einwände, denn sie hatte sich gewisse
Hoffnungen gemacht, daß dieser Halbsterbliche und damit
Halbgott in ihre Mitte aufgenommen werden würde, und sich schon
überlegt, was er und sie dann tun würden. O ja, sie mochte
ihn wirklich gern, diesen Hanse, diesen Göttersohn.
Sie versuchten, ihn umzustimmen, Shalpa voller Wut, bis Hanse auf
die Knie fiel und ihnen mit zitternder Stimme zurief, was er wollte: »Laßt mich Hanse sein!«
Da wurde es still in diesem übernatürlichen Audienzsaal
der Götter, bis Eshi wieder sprach. Auf ihrem Gesicht lag ein
wunderbares Lächeln, die reine Schönheit, denn sie war die
personifizierte Liebe.
»Es ist die verdammte ewige Wahrheit«, sagte Eshi.
»Dein reizender Bastard ist ein verdammtes Genie,
Shalpa!«
»Und doch ist er verdammt«, antwortete ihr Bruder mit
seiner rauhen Stimme, wie ein zu Klang gewordener Schatten.
»Verdammt durch seine eigene Zunge und seinen eigenen Wunsch.
Der Vollstrecker eines Gottes, Retter seiner Stadt und Zerstörer
eines Imperiums, der Sohn eines Gottes und Liebhaber einer
Göttin – und er wird auch von dieser Göttin geliebt,
eh?« fügte er mit einem Seitenblick auf seine Schwester
hinzu. »Verdammt zur Sterblichkeit, zur Menschlichkeit, durch
seinen eigenen selbstmörderischen Wunsch!«
Und voller Wut und Enttäuschung verschwand der Schatten aller
Schatten.
»Sagt meinem Vater«, bat Hanse ruhig, »daß
ich darunter gelitten habe, meinen Vater nicht zu kennen, und
daß ich nun darunter leide, ihn zu kennen. Sagt ihm,
daß… daß sein Sohn stark ist.«
»Es ist wahr«, sagte Ils, »und ich hätte nie
daran gezweifelt. So sei es!«
Als Hanse erwachte, fand er sich in den Ruinen des Adlernestes
oberhalb von Freistatt wieder, und er fragte sich, was, bei allen
Höllen, er dort
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