Diener der Finsternis
»Bis dahin sind es nur noch neun Monate, und Sie sehen sehr gesund aus.«
»Gesund bin ich wohl«, erwiderte sie ernst. »Wir wollen nicht vom Tod sprechen. Erzählen Sie mir lieber, aus welchem Grund Sie heute morgen ins Claridges gekommen sind.«
»Können Sie das nicht erraten?«
»Nein.«
»Ich wollte Sie zum Lunch einladen.«
»O bitte, sprechen Sie vernünftig! Sie haben eine Botschaft für mich?«
»Vielleicht, aber auch wenn ich keine hätte, wäre ich ins Hotel gekommen.«
Tanith zog die Stirn kraus. »Ich verstehe Sie nicht. Wir haben beide nicht die Freiheit, unsere Zeit mit so etwas zu verschwenden.«
Rex merkte, daß er seinen Nimbus als Mitarbeiter eines Ipsissimus verlor. »Der Herzog möchte mit Ihnen lunchen«, erklärte er schnell. »Eine Botschaft habe ich Ihnen nicht auszurichten. Der Herzog hat mich beauftragt, sie zu holen, weil er selbst mit Ihnen sprechen will.«
»Ach so. Wo ist er?«
»In Pangbourne, seinem Landhaus an der Themse, gleich hinter Reading.«
»Aber das ist ja meilenweit weg!«
»Nur ungefähr fünfzig Meilen.«
»Er hätte doch mit mir sprechen können, bevor er London verließ.« In Taniths Augen glomm Argwohn auf.
»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Rex. »Ich weiß nichts weiter, als daß ich Sie holen soll. Und was der Herzog befiehlt, geschieht.«
XI
»Sie lügen mich an!« rief Tanith ärgerlich aus. »Ich werde nicht mit Ihnen gehen!«
Rex dachte verzweifelt nach. »Wissen Sie, warum wir Simon Aron entführt haben?«
»Ja. Madame d’Urfé sagte es mir. Der Herzog ist ebenfalls auf der Suche nach dem Talisman des Seth.«
»Genau.« Rex hätte zu gern gewußt, was der Talisman des Seth war. Langsam fuhr er fort: »Simons Anwesenheit ist notwendig, weil er unter einer bestimmten Konstellation geboren ist. Nun, sehen Sie, wir brauchen Sie ebenfalls.« Er erinnerte sich daran, was de Richleau über ihren Namen gesagt hatte, und wagte einen Schuß ins Dunkle: »Sie stehen doch unter dem Mond, nicht wahr?«
»Ja«, gab sie zu, »aber was hat das damit zu tun?«
»Eine Menge, glauben Sie mir. Nicht einmal Mocata weiß über die Bedeutung des Mondes in dieser Angelegenheit Bescheid. Deshalb hat er bisher auch noch keine Fortschritte erzielt.«
Tanith zögerte. »Ich darf Mocatas Zirkel nicht verlassen. Ich bin sein bestes Medium. Er wird mich auf schreckliche Weise bestrafen.« Ihr Gesicht war bleich geworden.
»De Richleau wird Sie beschützen. Denken Sie daran, daß er ein Ipsissimus ist. Wenn Sie nicht sofort mitkommen, kann er Ihnen Schlimmeres antun als Mocata.« Rex verabscheute sich selbst, daß er zu diesem Mittel greifen mußte. Aber das Mädchen mußte vor sich selbst gerettet werden.
Tanith schluchzte nervös auf. »Was soll ich nur tun? Es ist das erste Mal, daß ich von einer Fehde innerhalb des Ordens höre. Ich dachte, ich brauche nur dem Pfad zu folgen, um Macht zu erlangen, und jetzt stehe ich vor einer so furchtbaren Entscheidung.«
Rex erkannte, daß sie weich wurde. »Kommen Sie mit mir, und Sie haben keine Ursache, sich vor irgend etwas zu fürchten.«
Tanith nickte. »Nun gut. Ich will Ihnen vertrauen.« Sie ließ sich von ihm aus dem Hotel zu seinem Rolls-Royce führen und stieg ein.
Nachdem sie eine ganze Zeit schweigend dahingefahren waren, wandte Rex sich zu ihr und lächelte. »Können wir die ganze Sache nicht vergessen, bis wir beim Herzog sind, und uns über etwas anderes unterhalten?«
»Wenn Sie möchten. Erzählen Sie mir etwas über sich?«
Rex war froh, daß er für mindestens eine Stunde nicht mehr über das dünne Eis geheimnisvoller Anspielungen zu laufen brauchte. Er begann, ihr über sein Leben in den Vereinigten Staaten zu erzählen, über seine häufigen Auslandsreisen und seine Liebe zu schnellen Wagen und Booten und Flugzeugen und Bobschlitten.
Als sie Brentford hinter sich gelassen hatten und auf Slough zufuhren, brachte er sie dazu, auch aus ihrem Leben zu berichten. Ihr englischer Vater war gestorben, als sie noch ein kleines Kind war. Sie war bei ihrer Mutter in einem alten Schloß am Südhang der Karpaten aufgewachsen, völlig von der Welt abgeschnitten. Als das österreichisch-ungarische Kaiserreich nach dem Krieg aufgeteilt wurde, fiel der Landesteil an den neuen Staat Jugoslawien, aber Taniths Leben war davon nicht berührt worden. Der Großteil des Vermögens ihres Vaters war in England angelegt. Vor drei Jahren war nun auch ihre Mutter gestorben, und Tanith, frei von Bindungen
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