Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Heilung meines Brustbeins dringlicher war als die Narretei eines Sammlers viereckig winziger »Wertzeichen«.
Ich entdeckte den thrill . Neben der Angst, die mich immer hinauf in den Dachboden begleitete, registrierte ich eine – wie trefflich passt das Wort – diebische Freude. Eine komplizierte Sensation durchzuckte den Körper: der Stolz über die überwundene Angst und das Wissen um meinen Mut, der bereit war, für alle Folgen einzustehen. Lag die Angst zehn Minuten später hinter mir und lag bald danach das Bargeld auf meiner rechten Handfläche, breitete sich dieses Glücksgefühl aus. Verdammt schönes Glück.
Ein paar Jahre später verließ ich den Peiniger, den Speisekammer-Verschließer und Briefmarken-Besitzer. Zu viel Zucht, zu viel Faustrecht, zu wenig Aussicht auf ein beschwingtes Leben. Ich zog in ein Internat und stellte fest, dass mein Geburtsfehler – permanente Geldnot – nicht verschwinden wollte. Da ich jede finanzielle Zuwendung von außen ablehnte, schien es unvermeidlich, mich wieder meiner widerrechtlichen Begabung zu erinnern.
Das funktionierte. In den Ferien ließ ich mich von der Verwandtschaft einladen. Um ihr die Gastfreundschaft auf infame Weise heimzuzahlen: Gingen Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen spazieren, durchsuchte ich die noblen Ankleidezimmer. Ich spezialisierte mich auf edles Schuhwerk und scharf gebügelte Hemden. Die waren leicht und unauffällig zu verstauen. Da ganze Schuhkästen und Hemdenschränke herumstanden, fielen meine Eingriffe nicht auf. (Vielleicht fielen sie auf, aber nie hörte ich Klagen.)
Es gab delikatere Fälle. Das waren Verwandte, die als alleinstehende Herren lebten. Reifere Herren. Wie sie ablenken von ihrem Besitz? Ich besuchte sie dennoch. Aber immer in Begleitung einer anmutigen Freundin. Mir reichten Minuten, um das Soll zu erreichen. In diesen Minuten ließ ich die Anmutige mit den reifen Herren allein. Zeit für die Schöne, um mit Charme und Witz über meine Abwesenheit hinwegzuplaudern. Als ich zu Kaffee und Kuchen wieder am Tisch saß, waren alle gut gelaunt: die geschmeichelten Männer, die (am Umsatz beteiligten) Freundinnen, ich, der Dieb.
Von Anfang an leitete mich eine Grundregel: Nie von Habgier überwältigen lassen! Eine solide gefüllte Sporttasche hielt ich für vertretbar. Schlüpfte ich mit ihr durch den Dienstboten-Ausgang, überfiel mich wieder dieses brausende Gefühl, am Leben zu sein, dieses Sausen der Glückshormone.
Kam ich zurück ins Heim, deponierte ich im eigens dafür reservierten Spind die frische Beute. Mein kleiner Bazar sprach sich herum, neue Freunde kamen und kauften ein, cash was king . Mit Befriedigung sah ich die tadellos geschnittenen Hemden und edel besohlten Schuhe auf dem Schulhof auftreten. Ich fand, dass wir alle einen ausgezeichneten Geschmack besaßen: die früheren Besitzer, die neuen Besitzer, ich, der Trödler.
Vermutlich waren die immer wieder eintreffenden Finanzspritzen mitverantwortlich für die Tatsache, dass ich das Abitur schaffte. Wie anders hätte ich die Nachhilfestunden – zuerst für Mathematik, später für Latein und Griechisch – bezahlen können? Ich hätte nicht, ich hätte wiederholen müssen. Welch eine Belastung für den Staat, welch Segen, dass andere so großzügig mit ihren Wertsachen aushalfen. Ich lernte, dass Klauen durchaus zum sozialen Frieden beitragen konnte.
Ein halbes Jahr nach Erhalt des »Reifezeugnisses« (noch heute muss ich grinsen, wenn ich dieses Wort hinschreibe) kam der Bruch. An einen ordentlichen Studiengang, wie hin zum Dipl.-Ing., war nicht zu denken. Ich schien unreifer denn je, schrieb mich an verschiedenen Universitäten ein, zog in verschiedene Städte, zog in ein anderes Land, zog weiter, jobbte und bereitete neue Irrtümer vor. Während ich die nächsten Weihnachtstage wieder bei meinem Lieblingsonkel H . verbrachte, döste ich von einer Depression in die andere.
C ., der jüngste Sohn der Familie, kam mir zu Hilfe. Gleich dreifach, denn ihm ist es zu verdanken, dass ich mich nun zu einem wahrhaft talentierten Dieb entwickelte. Und in seiner Schuld bleibe ich bis ans Ende meiner Tage: für die Tatsache, dass aus mir, dem Zwanzigjährigen (sicher kein Frühbegabter) ein Langfinger mit einem höheren Ziel wurde, ja ich – schier unnennbar seine Verdienste – meinen Beruf fand und eines Tages von dem leben konnte, was ich liebte. Das klingt hochdramatisch, wenn man bedenkt, dass C .s Hilfestellung nur darin bestand, lesend
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