Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
in einem Sessel zu sitzen und mir zwei einfache Fragen zu beantworten:
»Was liest du da?«
»Liebe ist nur ein Wort, von Simmel.«
»Wie ist es?«
»Sehr gut, musst du unbedingt lesen.«
Dann verstummte er wieder, sein Schweigen war aggressiv, ich spürte, dass er sich weitere Fragen von einem notorischen Nichtleser verbat. Wahrscheinlich empfahl er mir das Buch, damit ich den Mund hielte und ihn nicht weiter belästigte.
Irgendwann sollte ich ein Gedicht von Erich Fried in Händen halten, in dem der Dichter von Leuten spricht, die aus Langeweile einem halben Dutzend Fliegen die Beine ausreißen und bald darauf, wieder gelangweilt, Menschen umlegen. Ich hatte Glück, ich ging in die nächste Buchhandlung und kaufte Liebe ist nur ein Wort.
Der Fairness halber müssen noch die St.-Pauli-Nachrichten erwähnt werden. Die letzten acht Wochen vor Weihnachten war ich als Schichtarbeiter bei der Post beschäftigt. Da ich keine feste Adresse hatte, teilte ich mit drei anderen Postlern ein desolates Hotelzimmer. Die einzige Lektüre, die herumlag, waren die Nachrichten aus St. Pauli. Leider gelang es mir nie, sie zu lesen. Die Seiten klebten.
Das stimmte mich verdrossen. Wegen des entgangenen Blicks auf Hamburger Titten, aber auch, weil ich für Augenblicke das so gründlich verschollene Verlangen spürte zu lesen. Und wären es die Sprüche von Tussis und Machos gewesen. Dennoch, ein noch schwacher Trieb meldete sich da, keineswegs stark genug, mich hinunter auf die Straße zu treiben und eigenes Geld für Lesestoff auszugeben. Dass es nun tatsächlich dazu kam, war wohl einzig C . zuzuschreiben.
Unerforschliches Menschenherz. Dass ausgerechnet Johannes Mario Simmel mir das Lesen beibringen sollte, schon überraschend. Liebe ist nur ein Wort beendete ich am übernächsten Nachmittag. Da mir der Deutschunterricht am Gymnasium nur verschwommen in Erinnerung geblieben war – eingeschläfert vom Nachzählen anfälliger Trochäen und Jamben –, schien ich außerstande zu sagen, ob dieser Roman rasant geschrieben war oder eher brav, eher solide.
Egal, das Simmelbuch gefiel mir, die Story nahm mich mit. Die Zubereitung, die Sprache, schien mir nicht wichtig. Erst ein paar hundert Bücher später, erst nachdem ich Emil Staigers Provokation »Form ist der höchste Inhalt« gefunden hatte, begriff ich, warum Simmel ein guter Schreiber war. Aber kein Meister, keiner, der einen Satz hinlegte, nach dessen Lektüre man die nächsten zehn Minuten nur lautlos dasaß. Und die Wucht der Zeilen genoss.
Fest steht: Dank C . und Simmel schoss ich von Null auf Leseratte. Und damit zurück zur Geschichte eines Kriminellen. Denn ab jetzt galt es zwei Süchte, zwei Sehnsüchte, zu stillen: die alte Lust auf den Kick und die brandneue auf gebundene Buchdeckel. Ausleihen kam nicht in Frage. Ich hatte mir umgehend angewöhnt, Anmerkungen an den Rand zu kritzeln, Wörter zu unterstreichen, meinen eigenen Senf zu hinterlassen.
Was für eine schwachsinnige Rationalisierung! Was zählte, war – genau so – das immer wieder begeisterte Hinsehen auf eine rasch wachsende Bibliothek. Ich fing an zu begreifen, dass Bücher als Wächter gegen Schwächeanfälle und Feigheiten taugten, als Heilkraut gegen die Schrammen täglicher Bosheiten, als Flammenwerfer gegen die Verwüstungen einer vollkaskoversicherten Windel-Gesellschaft.
Ein von Lustgefühlen begleiteter Teufelskreis begann. Sobald ich Papier sah, fing ich Feuer. Und um dieses Feuer zu löschen, benötigte ich wiederum Papier, viel Papier, viele Bücher.
Ich arbeitete mich ein, wusste sogleich, dass es sich um ein langfristiges Projekt handelte. Wo immer ich wohnte, inspizierte ich zuerst die vor Ort befindlichen Buchläden. Wo ließ sich am gefahrlosesten einpacken? Wie viel Personal gab es? Mehr Frauen, mehr Männer? Wann war Mittagspause? Wo in den Büchern versteckte der Buchhändler die Antidiebstahl-Sensoren?
Dann suchte ich – in einer Nachbarstadt, aus Sicherheitsgründen – einen Schneider. Ich wollte es halten wie die Indianer, erstes Gebot: Hände frei! Und ohne Aktentasche und Rucksack antreten. Denn nichts sieht an solchen Orten verdächtiger aus als ein Gegenstand zum Abtransport von Büchern. So erklärte ich dem Schneider, dass ich unter Bandscheibenproblemen litte, keine Trageriemen aushielte und deshalb – am Innenfutter befestigt – je vier Spezialtaschen benötigte. Per Hand eingenäht in das von mir mitgebrachte Harris-Tweed-Jackett (dicker Stoff,
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