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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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und Zeit haben. Taweens Hände sind bereits kalt und blutleer. Aber die 28-Jährige – laut Unterlagen von ihrem Ehemann angesteckt – atmet noch. Sie schläft mit halb geschlossenen Augen. Dazwischen Pausen, dann ein Ruck und wieder springt das Herz an. Eine halbe Stunde lang der immer gleiche Rhythmus, dann plötzlich ein Gurgeln, zwei, drei Konvulsionen des Körpers, Stille. »Einen schönen Tod« nennen sie das hier. Weil ohne Bewusstsein, ohne Schreie, ohne den Wunsch, am Leben zu bleiben. Dennoch, sterben neben einem Wildfremden, ist das schön? Aber vielleicht wiegt doch, dass ein Mensch da war, dass einer Anteil nimmt, wenn man für immer verschwindet.
    Andere Patienten haben mehr Glück. Wie der freundliche Paipun, der sich nach jeder frischen Windel mit dem Wai bedankt, dem Händefalten vor dem Gesicht. Als ich heute vorbeikomme, umarmt eine Frau seinen nackten, zerschundenen Oberkörper. Wir begrüßen uns, sie sagt: »Ich bin sein Freund.« Das ist ein guter Satz. Nicht seine Freundin, sagt sie, nicht seine Frau, einfach: sein Freund. Als ob Sajee von Henry Millers Bemerkung wüsste: »Freundschaft ist etwas jenseits von Liebe«. Die junge Frau versteckt ihre Augen hinter einer Sonnenbrille, wendet sich manchmal diskret ab.
    Da mag einer tausend Mal an die Wiedergeburt glauben, tausend Mal an ein Nirwana und seinen ewigen Frieden. Aber jetzt stirbt einer, der geliebt wird. Der ein Freund ist. Diesen Schmerz beschwichtigt in diesen Stunden nichts, keine Religion, keine Philosophie, keine Sprache, nichts.
    Jeden Tag bin ich bei Noy, auch heute, am letzten. Er mag es, meinen Bizeps zu betasten, ich mag sein skeptisches Grinsen. Der ehemalige Gemüsehändler hat gerade eine wuchernde Krätze hinter sich, die Haut blättert. Unübersehbar sein hellrosa Penis, den Pilze, Herpes und eine Horde Bakterien heimsuchen. Am zermürbendsten: Den 33-Jährigen treibt nichts mehr an, seit einer Woche knebelt ihn eine stumm machende Depression.
    Ich soll mit ihm spazieren gehen, so der Arzt, damit die Lebensgeister zurückkehren. Nicht leicht, seine Freude wiederzufinden, wenn einer gleichzeitig zusehen muss, wie ihm täglich der Leib abhanden kommt. Wir fangen an: Die volle Windel wegziehen, säubern, den Körper im Bett aufsetzen, Pause, ihn auf beide Füße stellen. Nun der Augenblick, in dem Noy dasteht und zu Boden blickt. Als müsse er darüber nachdenken, ob sein Leben diese Strapaze noch wert ist. Still ist es gerade und Noy scheint sehr einsam.
    Ich lege die rechte Hand auf seinen Nacken und der Kranke tippelt los, Richtung Toilette. Noy grinst jetzt, er hat sich entschieden. Mit nur einem Stopp schafft er die zehn Meter zum Bad. Ich greife ihm unter die Achseln und setze ihn auf die Klobrille. Noy unternimmt einen schwachen Versuch, mich abzudrängen, ein Gefühl von Scham holt ihn wohl ein. Ich bleibe, zu groß die Gefahr, dass sein eckiger Hintern in die Schüssel rutscht. Noy entleert sich, mehrere Durchgänge, selbst der Stuhl ist eine infame Anstrengung. Anschließend den Todkranken hochheben, ihn waschen, ihn trocknen, ihm ein Handtuch umbinden, zuletzt gemeinsam hinausgehen, Schritt für Schritt. Bis wir die Terrasse erreichen. Noy dreht sich langsam um die eigene Achse, grinst wieder, bleibt stehen und sieht stumm und verwundert auf die Hügel, die Bäume, den Himmel, diese verdammte schöne Welt.

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