Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
geräumig) und den ebenfalls von mir gelieferten Mantel: ein schwarzledernes Ungetüm aus dem Zweiten Weltkrieg, schwer und belastbar.
War die Maßarbeit fertig, stellte ich zu Hause einen mannshohen Spiegel auf, frisch vom Sperrmüll geholt. Ich begann zu trainieren: die kleinen wendigen Bewegungen, um ein Buch von einem Regal in eine circa fünfzig Zentimeter entfernte Jackentasche zu befördern. Unauffällig, also in Windgeschwindigkeit. Viermal in Windgeschwindigkeit, weil ja vier Taschen existierten. Im Winter sogar acht, denn dann kam ich mit dem Mantel vorbei. Da die eingenähten Schlupflöcher verschieden breit und tief waren, musste ich ein Gefühl für ihre jeweilige Größe bekommen. Um blindlings zu wissen, welches Buch wo hineinpasste. Einmal sich verschätzen, konnte für immer das Aus bedeuten.
Irgendjemand hat einmal behauptet, es gäbe nur zwei Sorten von Menschen – Professionelle und Amateure. Ich wollte beides sein: ein fehlerloser Profi und ein amateur im französischen Wortsinn, eben ein Dilettant mit Hingabe. Da ich inzwischen Student an einer Schauspielschule war, schienen die Voraussetzungen gegeben, lange und erfolgreich als gewiefter Klauer zu überleben. Den eifrigen Bücherwurm vorführen und simultan als schamloser Entwender unterwegs sein, das schien eine herausfordernde Doppelrolle.
Ich musste hart arbeiten, ich spürte, dass ich nicht cool auftrat, nicht souverän genug, nicht wie ein unbescholtener Mitbürger, der hintergedankenlos eine Buchhandlung betrat. Ich beobachtete mich zu sehr, verlor alle Nonchalance, war nicht der saloppe Hallodri, der kurz hereinschaut, um sich auf Lebenszeit ein paar Bände auszuleihen.
Ich übte, ich wurde besser. Erste Erfolge, erste fünfzig (unbezahlte) Kilo Papier entspannten mich. Die Schneiderkosten amortisierten sich. Ich registrierte mit Genugtuung, dass ich auf dem rechten Weg war. Der Genuss und der Kick kamen zurück, ich erreichte das bravouröse Gleichgewicht von Angst und der Fähigkeit, diese Angst zu genießen. Nie träumte ich davon, sie völlig loszuwerden. Die Angst war der Preis für den Flash, war der Garant dafür, nicht unbedacht zu werden.
Ein überraschendes Problem tauchte auf: Von Mundraub war keine Rede mehr. Alles, was ich früher jemandem entwendet hatte, hatte ich umgehend versilbert, um damit meine Ernährung und andere Nebensächlichkeiten des Lebens zu bestreiten.
Das war vorbei, ein Buch zu veräußern schien wie Hochverrat, unaussprechlich. Jeden Buchstaben bewahrte ich für mich. Die Folge: Mein Geburtsfehler – genetisch bedingte Bargeldlosigkeit – spitzte sich wieder zu. Ferner lernte ich aus einem (Momente zuvor) entführten Fremdwörter-Lexikon, dass ich nicht mehr für die mildernden Umstände einer Kleptomanie in Frage kam. Da stand zu lesen: »Zwanghafter Trieb zum Stehlen ohne Bereicherungszwang .« Mein Trieb war zwanghaft, unleugbar. Aber so war der Bereicherungszwang. Ich hatte längst entdeckt, dass mich bedrucktes Papier mehr bereicherte als vieles andere. Auf ästhetischer Ebene: Bücher sahen verteufelt gut aus. Auf emotionaler Ebene: Bücher wärmten mein Herz. Auf zerebraler Ebene: Bücher fütterten das Zerebrum, das Hirn.
Ich brauchte einen Plan. Um nicht von den Zwängen lassen zu müssen (wie denn?) und nicht vom Fleisch zu fallen. Für Kleidung war gesorgt. Als Schauspielschüler kam ich herum, die Schule organisierte kleine Tourneen, vor dem Auftritt war genügend Zeit, um im fremden Fundus – hinter dem Rücken des Requisitenmeisters – nach zwei, drei passenden Stücken zu fischen.
Das absolut notwendige Bargeld verdiente ich in den Nächten des Wochenendes als Taxifahrer, hundertfünfzig Kilometer entfernt, in einer anderen Großstadt. Natürlich machte ich teure Umwege mit ahnungslosen Kunden (vorwiegend bei Amerikanern), natürlich gab ich öfters zu wenig heraus (immer bei Trunkenbolden) und natürlich schaltete ich bei jeder dritten Fuhre den Taxameter nicht ein (bei kooperativen Fahrgästen). Um allein, ohne den Unternehmer, zu kassieren.
Und ich legte auf dem Rückweg immer einen Stopp bei Onkel H . ein. Eines seiner Hotels lag günstig am Weg. Seine eigenen Kinder bezeichnete er als Faulpelze, mich sah er betriebsam herumrennen, hieß mich somit stets willkommen. Ich trug aufmerksam dafür Sorge, dass er an diesem Irrglauben festhielt. Nie sollte er erfahren, dass einer der Gründe meines gehetzten Lebenswandels damit zu tun hatte, dass ich nachts in den Kühlraum
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