Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
Hinterher ließ der Druck nach, die kleine Eitelkeit war befriedigt, eine Zeitlang brauchte ich mir nichts zu beweisen.
Der Vorgang erinnerte mich an einen sogenannten »geheilten« Alkoholiker. Der wird unter normalen Umständen keinen Schnaps mehr anrühren. Aber die Instinkte, die Sehnsucht nach einem Dusel, die bleiben ihm ein Leben lang. So ähnlich funktionieren bibliophile Ex-Langfinger: Das Zucken geht nie ganz weg, erst recht nicht in mit Bücherwänden vollgestellten Räumen.
Ja, die asozialen Phasen kamen zurück. Trotz der Vorsätze. Sie brachen auch dann aus, wenn ich Wohnungen von Freunden betrat. Die Verpflichtung, jenen ihre Bücher wegzunehmen, die sie nicht liebten, war brennender als jeder Aufruf zum gemeinnützigen Wohlverhalten. In solchen Situationen fühlte ich wie einer, der Geiseln befreite. Der das gebundene Papier aus dem Sumpf verstopfter Schubladen rettete, sie von den Abdrücken ungewaschener Hände säuberte, ihre Risse verarztete, sprich klebte, sie einkleidete, sprich einband, sie in eine trockene Wohnung evakuierte, sie zwischen ihresgleichen aufstellte, sie anschaute, sie las, sie bewunderte. Andere adoptieren Kinder, ich adoptierte Bücher.
Wie absehbar: Solche Lieben gingen auf Kosten anderer. Solche Süchte hatten Nebenwirkungen. Nicht unbedingt die sozial löblichen. Je mehr ich las, desto weniger hörte ich zu. Präziser: Lieber schweigend einem Autor lauschen als Blabla reden und Blabla wahrnehmen. Bereits nach den ersten Sätzen eines Gesprächs überkam mich oft das niederschmetternde Gefühl, dass ich mich wiederholte und dass der andere es auch nicht besser konnte. Dass wir gerade dabei waren, uns gegenseitig unsere Lebenszeit zu ruinieren. Dass ich augenblicklich Nachrichten und Einblicke erfuhr, die mich nicht (mehr) mitrissen. Weil ich längst von ihnen gehört hatte. Dass ich nur noch die grelle Alarmlampe in meinem Kopf registrierte, die penetrant ein einziges Wort signalisierte: FLUCHT ! Und dass ich den Rest meiner Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, wie ich am schonendsten für uns beide diese Flucht antreten könnte. Richtung nächstes Buch. Da, wo (neue) Gedanken standen und die dazugehörigen Hintergedanken, da, wo ich ohne lebenszehrende Umwege an die Schatztruhe eines anderen herankam.
Dieses Verlangen, lieber zu lesen, als zu reden und zuzuhören, erinnerte mich an die Lust auf eine intellektuell harmlose Frau, bei der mich nichts anderes entflammt als ihr Körper. (Eine Zwischenbemerkung, als Beitrag zum Frieden unter den Geschlechtern: Wäre ich homosexuell, würde ich »Lust auf einen intellektuell harmlosen Mann« schreiben. Schon als Minderjähriger bin ich zu der unausweichlichen Überzeugung gekommen, dass geistige Harmlosigkeit schonungslos gerecht auf Männer und Frauen verteilt ist.) Nun, um an diesen appetitlichen Leib heranzukommen, hätte ich reden müssen, balzen, Verständnis nicken, mein Ohr leihen, wieder reden, wieder mich anpreisen.
Ein Dilemma für alle erotisch anrührbaren Bücherwürmer: Ein formschön gewachsener Körper, der Wohlgeruch und Geheimnis verspricht, ist mindestens so verlockend wie ein formschön-geheimnisvolles Buch. Da brechen zuweilen innere Zwiste aus, die Kopfweh machen. Hin zum Leib? Hin zum Geist? Wohin?
Karma, die indische Lehre von Ursache und Wirkung, hat einen langen Atem. Der Täter mag seine Taten bereits vergessen haben, das Karma vergisst nie. Es ist unfehlbar nachtragend. Ob das stimmt, ob es eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt? Ich zweifle. Aber im vorliegenden Fall klingt sie einleuchtend. Denn nun beginnt der letzte Teil der Geschichte eines Diebs. Der Teil, an dem auch ich Zahltag hatte. An vielen Tagen, in vielen Nächten. Die unheimlichen Kräfte, jetzt brachen sie los.
Es passierte in einer Herbstnacht in Paris. Es war kurz nach vier Uhr früh, ich wachte auf und konnte mich nicht mehr bewegen. Vor Kurzem war ich zum 53. Mal in meinem Leben umgezogen, mein Futon lag noch zwischen den Bücherkartons. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Mein erster Blick fiel auf Pappe, dann auf die weit über zwei Meter hohen und fünf Meter langen Bücherwände. Ich registrierte, dass der Drang zur Toilette mich geweckt hatte. Und ich fühlte sofort, dass es dorthin zu weit war. Beim geringsten Versuch, mich aufzurichten, strahlte ein gemeiner Schmerz die Wirbelsäule hinunter. Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn.
Mehrere Versuche scheiterten. Ein Missile schoss durch meinen Oberkörper,
Weitere Kostenlose Bücher