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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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Monaten an vielen Tagen unentgeltlich Bücher davongetragen hatte. Der Bücherklau-Gau wäre eingetreten, die Polizei hätte sich auf mich geworfen, mein Harris-Tweed-Sakko (dummerweise auch entwendet), meinen Weltkriegs-Mantel (dito) und meine (jetzt) siebzehn Quadratmeter Wohnfläche durchwühlt. An einem Faden und einem Erleuchteten hing meine Zukunft.
    Ich sah keine andere Lösung, als wie ein rückgratverbogener Schwerbeschädigter das Rad anzuschieben und dabei den linken Unterarm gegen das abstürzende Buch zu pressen, eben so, als überkäme mich augenblicklich eine grässliche Malaise. Keine ausgesprochen elegante Stellung, aber augenblicklich wollte ich davonkommen und nicht elegant sein.
    Ich kam davon. Und diesmal schlotterten meine Oberschenkel nicht, sie bebten. Sobald ich einen dunklen Hauseingang gefunden hatte, musste ich mich setzen. Ich saß lange.
    Aus einem diplomierten Schauspielschüler wurde ein Schauspieler an einem mit dreißig Millionen Mark subventionierten »Staatsschauspiel«. Beim ersten Gespräch zwischen mir und dem Intendanten des Hauses, einem cholerischen Glatzkopf, wurde klar, dass wir uns nicht mochten. Er legte den Vertrag vor und ich sah sofort, dass er mir nicht mehr als nullkommanullfünf Promille von den dreißig Millionen zukommen lassen wollte. Dafür musste ich ihn bestrafen, standrechtlich. Als er sich ans Fenster stellte, um einen seiner bekannten Sermons zur hehren Schauspielkunst abzusondern, fingerte ich zum Schreibtisch hinüber und steckte eine Ausgabe von Shakespeares Sonetten ein, herrlich in Kalbsleder gebunden und bravourös von Karl Kraus übersetzt.
    Im Laufe der nächsten drei Jahre änderte sich nicht viel an unserem Verhältnis. Aber wir richteten uns ein: Der Glatzkopf speiste mich mit dem Gehalt eines Lanzenträgers ab und ich lernte B . kennen, einen generösen Bühnenarbeiter, der den Eingang überwachte, wenn ich – wieder mit einer strapazierfähigen Sporttasche unterwegs – die staatlichen Kleiderkammern durchwühlte. Die schärfsten Teile trug ich davon, als wir den Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui aufführten. Nagelneue, maßgeschneiderte Sakkos im Stil der dreißiger Jahre, samtweiche Borsalino-Hüte, dezente Seidenkrawatten. Da im Nebenhaus zeitgleich Der Misanthrop gespielt wurde, ergab sich die schöne Gelegenheit, auch dort zuzugreifen, sprich, unter anderem eine Mandoline und ein vierteiliges Teegeschirr von den Regalen zu nehmen. Ich war fleißig, der Unterschied zwischen einem Lanzenträger-Gehalt und dem, was ich für angemessen hielt, war beträchtlich. Drei monatliche Spritztouren in die Schatzkammern des Glatzkopfs gehörten zu meinem festen Repertoire.
    Wieder zog ich in den nächsten Jahren um, zog auf drei verschiedene Kontinente. Überall packte ich Bücher ein, unentgeltlich. Dabei verlernte ich die Schauspielkunst und fing an zu schreiben. Bis das aufregende Datum kam, an dem ich feststellte, dass Buchstaben schreiben mich (als Reporter) ernährte, dass ich eine prächtige Bibliothek besaß, dass ich mich noch immer auf freiem Fuß bewegte und dass mir die Lust am Entwenden vergangen war. Ich konnte sie nicht mehr rechtfertigen, es gab keinen Grund mehr, meine Freundinnen, die Buchhändlerinnen, und meine Freunde, die Buchhändler, zu bestehlen. Der Mundraub-Status war verschwunden. Ich verdiente jetzt genug, um für alles bezahlen zu können.
    Es gab Ausnahmen, natürlich. Wie den Vorfall in der Stadtbibliothek von Durban in Südafrika, wo ich nach Material über die indischen Einwanderer suchte. Und fand. Sofort wollte ich das fabelhafte Buch besitzen. Eine scheinheilige (und wahre) Rationalisierung flog mir umgehend zu: Dieses Werk war vergriffen, nicht mehr käuflich. Konsequenterweise musste ich es rauben. Denn Bücher ausleihen konnte ich noch immer nicht.
    Das wurde ein denkwürdiger Nachmittag. Als ich mit der versteckten History of Indian South Africans durch den Detektor ging, schrillte es laut und eine Leuchtschrift über dem Ausgang blinkte aggressiv in den Lesesaal: »Please go back to the desk!« Während ich darüber nachdachte, warum mir das verfluchte Metallteil im Buch entgangen war, ging ich nicht zurück zum Schalter, sondern rannte vorwärts auf die Straße, mitten ins Gewühl des Abendverkehrs. Ein euphorisches Gefühl begleitete mich dabei. Noch immer.
    Nein, bereut habe ich den Ausrutscher nicht. Ab und zu musste ich mich meiner Reflexe vergewissern. Ob sie noch immer blitzschnell abrufbar waren.

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