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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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ein angenehmes Nebengefühl: Die Buchhändlerin kam immer wieder ins Bild, ich fand sie plötzlich nicht nur attraktiv, sondern begehrenswert. Ich wusste wieder einmal, dass Frauen, die Bücher mit sich herumtragen, verlockender aussehen als die Bücherlosen, die Gedankenlosen, die Zufriedenen.
    Drittens, folglich: Die Dame musste neutralisiert werden. Ein zweites Mal würde ich nicht auskommen. Da würde sie einschreiten, sich nicht mehr abbremsen lassen von meinen Sprüchen. Als ich das Café verließ, beschloss ich, R . zu verführen. Mich vor ihr auszuziehen, diese Idee gefiel mir jetzt. Ich war guter Hoffnung. Ein paar Seitenblicke von ihr in den letzten Wochen deutete ich als Willkommensgruß. Blicke, um Bruchteile einer Sekunde zu lang, um als nichtssagend durchgehen zu können. Sicher die wohlwollenden Blicke einer Bücherfrau auf einen Büchermann.
    R . schenkte mir eine wunderbare Zeit. Nach dem verregneten Morgen, an dem ich sie hinter ein Bücherregal bat und küsste (ich hatte noch nichts eingepackt). Sie war ganz einverstanden und küsste zurück. Wie ich bevorzugte sie bibliophile Zeitgenossen. Nach dem letzten Kuss flüsterten wir uns zu, uns abends wieder zu küssen.
    Ich hatte mich nicht geirrt, ihre Stimme passte zu ihren Bewegungen. Wir waren zart und zudringlich zueinander, ihr Körper war so verschwenderisch wie ihr Kopf, uns fehlte nichts. Nur manchmal kam ich ins Schleudern, in jenen Momenten, in denen R . über die grassierende Diebstahlswelle in ihrem Laden lamentierte. Ich nickte bedrückt und lamentierte mit. Sie aufzuklären, stand außer Frage. Ich war schon immer Einzeltäter gewesen. Zudem wollte ich unsere Liebelei nicht mit einem so schaurigen Geständnis belasten. Dass wir uns immer bei ihr trafen, fand sie in Ordnung. Ich hatte ihr erzählt, meine Wohnung sei zu winzig, um sich ungeniert in ihr ausbreiten zu können. Dass für die Enge über tausend nie bezahlte Bücher verantwortlich waren, das erzählte ich ihr nicht.
    Ich war froh über diese Frau. In einem ihrem Arbeitgeber entwendeten Band las ich folgenden Eintrag: »Ich bin vermutlich einer der einsamsten Menschen der Welt. Nicht, dass ich keine Menschen kennen würde, ich komme immerfort mit ihnen zusammen, vor allem mit Frauen, die mich gern zu haben scheinen. Ich glaube nicht, dass ich mich selbst je ganz verstanden habe und ich habe niemals jemand gefunden, der mich verstand. Darum bin ich so einsam. Ich verliebe mich ungefähr jeden Monat einmal, aber es dauert nie länger als ein oder zwei Wochen.«
    Diese Stelle aus einem Brief des vierundzwanzigjährigen Thomas Wolfe an seine Mutter machte mir Angst. Man weiß ja, dass bei manischen Lesern die Gefahr besteht, in Büchern nachzuholen, was die Wirklichkeit nicht hergibt. Ich wollte nicht werden wie der amerikanische Schriftsteller, ich wollte beides, die Einsamkeit und die Sinnlichkeit. Nur einsam sein, das ist furchtbar. Und immer behütet werden, nie einsam sein dürfen, schien mir nicht weniger grauenhaft.
    Ich musste an einen Zwischenfall denken, lange zurück, als mir eine Zimmerwirtin »Damenbesuch« untersagt hatte. Das war ein Grund, ihr fristlos zu kündigen. Ich bestand darauf, dass Damen mich besuchten. Viel einsamere Tätigkeiten als Stehlen und Lesen gibt es nicht. So wollte ich wenigstens mein restliches Leben in Begleitung verbringen.
    Ich fand das romantisch: Bücher einzustecken und zwischendurch – auch das heimlich – mit der Buchhändlerin zu schmusen. Bis zu jenem Vormittag, an dem ich in zehn Sekunden um zehn Jahre alterte. Was war passiert? Ich trat aus dem Laden – die Taschen voller Gedrucktem, die Lippen voller Erinnerung an R . – und beugte mich über mein Fahrrad, um das Schloss aufzusperren. Und in diesem Augenblick welkte ich. Mein Blick fiel auf den unteren Rand meines Harris-Tweed-Jacketts, fiel auf die Ecke eines Buchs, das hervorlugte: die Buddha-Biografie von Hans Wolfgang Schumann. Kein Zweifel, die Nähte waren schlissig geworden.
    Ich alterte wahrscheinlich um ein elftes Jahr, als ich begriff, dass ich noch immer durch das Schaufenster sichtbar war. Dass jeder ein seltsam über ein Fahrrad gebücktes Wesen ausmachen konnte, das wie gebannt in dieser Position verharrte. Aber ich musste so verharren, denn die Gefahr bestand, dass bei der geringsten Bewegung der letzte Faden riss und Herr Buddha zu Boden fiel, sprich, der Buchhändler und alle Buchhändlerinnen, einschließlich R ., erfahren würden, dass ich seit vielen

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