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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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stabilem Karton, die mir künftig als »Buch-Halter« dienen sollte. Lag ich rücklings auf dem Bett, brauchte ich nichts mehr in Händen zu halten, um lesen zu können. Ich lag und las. Wieder sparte ich Energie und Scheine. Nur mein Hirn arbeitete, lautlos. Kamen Laute aus meinem Körper, dann heisere Lacher oder bedenkenlose Schluchzer. Jahre später sollte ich das Wort pleurnicheur kennenlernen: Ein Flenner war ich, auch das stimmte.
    An diesen ozeanstillen Nachmittagen überkam mich die beunruhigende Erfahrung, dass ich visuell nicht begabt war. Dass mich Bilder und Fotos blind machten und dass wahre Bilderberge erst hinter dem Auge entstanden. Wenn eben jener Vorgang passierte, der jeden Leser beim Lesen heimsucht: das Drehen seines eigenen Films. Bilder erstickten meine Imagination, Buchstaben schürten sie.
    Die Hungerkur zeigte Wirkung. Meine Delle zwischen den Rippen, so bildete ich mir ein, vertiefte sich. Wie meine Augenhöhlen. Auch mein Magen stellte sich um, nur jeden zweiten Tag verlangte er nach einem Stuhlgang. So wenig hatte er herzugeben. An meinen leichtesten Tagen schaffte ich – bei 190 Zentimeter Länge – ganze 67 Kilo. Einmal pro Monat ging ich zu einem Fotofix-Automaten, um ein Portrait von mir zu machen. Eindeutig, ich schrumpfte.
    Die Aufregungen ließen nicht nach. Es kam zu wunderschönen Szenen, die mich mit allen körperlichen Einbußen versöhnten: Es war ein friedlicher Winter-Nachmittag, ich ging in einer gut sortierten Buchhandlung meiner Arbeit nach, unhörbar für andere versanken Alfred Anderschs Die Rote , die Tagebücher André Gides und eine schmale Werkausgabe Hermann Hesses in meinen Geheimtaschen. Als ich nach Brechts Chinesischen Gedichten greifen wollte, geschah es.
    Eher arglos fing es an. Ich hörte eine Kundin nach dem »neuen Reinhold Messner« fragen. Eine Angestellte führte sie zur Ecke Alpinistik . Und begann zu fluchen: »Nicht zu fassen, jemand muss es gestohlen haben. Noch vor einer Stunde hat es hier gestanden.«
    Eine Menge Gedanken gingen mir sogleich durch den Kopf: dass ich wohl nicht der einzige war, der in dieser Gegend zugriff. Dass ich mich augenblicklich nicht weiter als zwei Meter vom Tatort entfernt befand. Dass ich bereits voll beladen mit gestohlenen Büchern dastand. Dass mich Messners unter Sauerstoffmangel niedergelegte Höhenräusche nicht interessierten. Und dass dieses Desinteresse nichts änderte an dem Tatbestand, dass ich mich – von außerhalb meines Kopfes betrachtet – in einer prekären Situation befand.
    »Der Herr ist mit den Standhaften«, so hatte ich es von meinem Religionslehrer gehört. Nun, heute stimmte der Nonsens, denn ich erfreute mich einer Bombenform: Kein Hitzewallen überfiel mich, kein aufgeregtes Erröten kam mir in die Quere. Beiläufig fragte ich die aufgelöste Buchhändlerin, wie jemand ein so dickes Buch einstecken könne. Das allerdings war die falsche Frage, denn R ., die Buchhändlerin – wir waren jetzt zu viert, der frühere Eigentümer der verschwundenen Ware, der ebenfalls erregte Ladenbesitzer, war hinzugekommen – deutete auf mich und antwortete glatt: »Ja, Leute wie Sie mit diesen weiten Mänteln sind uns sowieso verdächtig.« Da R . nicht nur gut aussah, sondern nebenbei über die Gabe der Ironie verfügte, sagte sie den Satz auf heitere Weise, sie lachte dabei sogar. Das muss mich gerettet haben, denn ich parierte, beflügelt vom frechen Verdacht: »Okay, aber wenn ich mich zwecks Kontrolle ausziehen muss, dann splitternackt und vor versammelter Mannschaft.« Das Splitternackte entkrampfte, wir alle lachten. Einige Minuten später wischte ich hinaus. Erst außer Sichtweite fingen meine Oberschenkel zu schlottern an. Sie begriffen als erste, wie knapp ich davongekommen war.
    Noch während sie zitterten, erfuhr ich, wie schön das war. Um es voll zu genießen, setzte ich mich sogleich in ein Café und bestellte – ausnahmsweise – einen Tee. Mit Dankbarkeit erinnerte ich mich der Tage, an denen ich vor dem Spiegel gestanden und neben den geschwinden Bewegungen auch die geschwinden Ausreden geübt hatte. Um mich hinauszureden, wenn notwendig, wenn not-wendend. Ich hielt mich selten für talentiert, ich war nur immer stolz auf meinen Eifer, mein Feuer. Beide hielten stets zu mir.
    Das wurde eine denkwürdige Teestunde. Nachdem ich die Szene mehrmals hatte Revue passieren lassen – um Schwachstellen zu entdecken und in Zukunft noch unverwundbarer aufzutreten –, registrierte ich

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