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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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sobald ich ihm die geringste Bewegung zumutete. Da ich den Gedanken nicht ertrug, wie ein armseliger Krüppel bis ans Ende meiner Tage liegenzubleiben, rutschte ich – Hintern voraus – zum Telefon. Und rief den Notarzt.
    Wie viele Notärzte wusste der Mensch nicht Bescheid. Aber er hatte eine Spritze dabei, die er mir verpasste. »Sie müssen entspannen«, meinte er und schrieb einen Scheck aus. Ich war sprachlos vor Dankbarkeit, mein Gesicht trocknete, mein geretteter Leib schlief weiter.
    Ich hatte nichts begriffen. Nach genau dreizehn Tagen lag ich wieder da, stocksteif, in die Nacht wimmernd, um Hilfe flehend. Ein anderer Doktor kam, er hatte neben der Spritze immerhin eine Empfehlung parat: »Gehen Sie zu einem Spezialisten.«
    Ich ging nicht. Ich flog, musste verreisen. Längst war eine Reise mit einem schweren Rucksack geplant. Drei Wochen später, während meiner ersten Nacht zurück in Paris, starb ich. Zumindest dachte ich, ich sterbe. Diesmal heulte ich, so hinterfotzig umklammerte der Schmerz meinen Brustkorb. Wie ein wirbelloses Säugetier robbte ich wieder auf das Telefon zu und flüsterte meine Adresse hinein.
    Der nächste Tag hätte ein Tag aus dem Leben von Monsieur Hulot gewesen sein können. Den Versuch, ein Taxi zu besteigen, um mich zum viel gepriesenen Professor  G . zu begeben, musste ich abbrechen. Ich war unfähig, meinen Körper zu falten und ihn auf dem Rücksitz des Wagens Platz nehmen zu lassen. Kerzengerade und so bedächtig wie jemand, der die Berührung mit seinen vollgemachten Hosen vermeiden will, wanderte ich die drei Kilometer zur Arztpraxis.
    Im Sprechzimmer kam es zum komischen Höhepunkt. Ich sollte mich auf der Liege ausstrecken. Was nicht ging, mein Körper verweigerte die aus dem Hirn eintreffenden Befehle. So hievten Arzt und Assistentin mich – unbeugsam wie ein Surfbrett – hinauf. Der Professor tastete über meinen schreienden Rücken und meinte trocken: »Was schleppen Sie ununterbrochen herum? Ihre Muskeln sind völlig verkrampft, kein Wunder, dass Sie brüllen.«
    Die folgende Anamnese verlief unkompliziert. Da ich talentlos bin für alle körperlichen Arbeiten, gab es keinen Grund, nach einer Tätigkeit zu suchen, bei der ich mich verausgabt hätte. Abgesehen eben von jenen grausamen Tagen, an denen ich umzog, sprich meine Bücher umzogen. Ich besaß kaum Möbel, nur – inflationär anschwellend – Kisten voll bedruckten Papiers, in Paris genau sechsundachtzig. Ich ließ niemanden an sie heran. Nie. Die Furcht, dem Papier könnte etwas zustoßen, verpflichtete mich, sie allesamt allein und ächzend aus einer Wohnung, diesmal im dritten Stock, hinauszutragen und sie – wieder allein und ächzend – in die nächste, diesmal im zweiten Stock, hineinzutragen.
    Missmutig blickte der Professor auf die Röntgenaufnahme meines verbogenen Rückens. Nicht zu übersehen: Das »S« war mein Karma, die Schreie aus meinen verwundeten Muskeln das unüberhörbare Signal, dass nun die Zeit der Buße gekommen war. Wie andere vor mir unterlag ich wohl dem unerbittlichen Gesetz des Samsara, von Versagen und Sühne.
    Wieder bekam ich eine Spritze. Damit ich zumindest im Fond eines Taxis Platz nehmen und ein Institut de massage kinésithérapeutique aufsuchen konnte. Dort legte Madame L . ihre erfahrenen Hände auf meinen geschundenen Rücken, massierte ihn, verstaute ihn zuletzt fürsorglich in einer heißen Fangopackung. Nachdem sie mich mit dem strengen Auftrag verlassen hatte, die Augen zu schließen und zu ruhen, klappte ich leise ein Buch auf. Hier las ich und konnte nicht anders. So gibt es Drogen, die einen ruinieren und zugleich das Leben retten.
    Der verbogene Rücken, der gehörte mir nun, bis zur letzten Buchseite meiner irdischen Existenz. Der Professor versprach, die Schmerzen zu lindern, Wunderheilungen jedoch wären nicht möglich. Mit keinem Wort erwähnte er eine neue Wirbelsäule.
    Ich hatte zu viele Sünden angesammelt, zu viele Bücher unbezahlt an der Kasse vorbeigetragen, als dass ich damit – mit Schreien und Flüstern ein paar Nächte lang – davongekommen wäre. Neue Flüche trafen ein. So vehement, dass ich um meinen Verstand fürchtete.
    Rabiate Zwangshandlungen setzten ein. Systematisch fing ich an, jedes meiner Bücher durchzusehen. Plötzlich störte mich die geringste Beschädigung, ein winziger Riss in einer Seite, ein lockeres Blatt, Flecken auf dem Vorsatzpapier, ein nicht tadellos sitzender Bundsteg. Schon ein Eselsohr verschaffte

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