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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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packe mit einer blitzschnellen Bewegung die Schultern des Oberkellners und stoße den Kleinen zurück in den Fahrstuhl.
    Das war der einzig klare Gedanke, den ich die acht Stockwerke hinunter fassen konnte: die halbe Portion zuerst abfertigen, um frei zu sein für den Geschäftsmann, das Mittelgewicht. Jetzt treibt mich die Angst an, Angst, die nicht einschüchtert, nur anspornt. Mit den Händen bilde ich eine Doppelfaust und ziele auf Kims Brust. Ich erwische ihn nicht voll, rutsche seitlich ab. Immerhin taumelt Kim, ich nutze seine Verwirrung und fahre blitzschnell mit beiden Armen unter seine Achseln, lifte den ganzen Leib und drehe uns beide um die eigene Achse. Als die Fliehkraft stark genug ist, lasse ich los. Kim segelt, erwischt mich aber noch am offenen Kragen. Während er wegschleudert, reißt er mir Hemd und Haut auf. Fünf Knöpfe und der Koreaner fallen zu Boden.
    Eine knappe Minute hat unser Auftritt gedauert. Der Kellner hat sich inzwischen nach oben verflüchtigt und von den Leuten an der Rezeption kommt keine Hilfe. Für niemanden von uns. Vier träge Geschöpfe, luxuriös gekleidet, sehen gleichgültig herüber. Ihre Gleichgültigkeit hilft, ich stürze los, will fort sein, bevor Kim auf die Beine kommt.
    Ein letztes Hindernis. Als ich im Sturmschritt hinausrenne, betritt im selben Augenblick ein Paar die Halle. Unser Timing stimmt nicht. Wir prallen zusammen, aus gehetzten Augenwinkeln sehe ich die Lady auf dem Teppich landen. Sorry, Ma’am, aber für die Hohe Schule vollendeten Benimms ist gerade keine Zeit.
    Den Bürgersteig hinuntersprinten. Hundert Meter weiter zwingt die Anwesenheit eines Polizisten zu einer langsameren, weniger verdächtigen Gangart. Dann weiterpreschen, dann links in einen Hinterhof abtauchen. Stopp, die kochenden Lungen beruhigen. Erst als die Sinne wiederkehren, bemerke ich die Dunkelheit. Klar, natürlich, ab zwei Uhr früh ist Seoul geschlossen, Ausgangssperre. Nur Nacht und Stille. Ein Wunder, dass ich auf meiner Flucht gegen keine Wand knallte, ja, noch verwunderlicher: mir überhaupt nicht auffiel, dass kaum Lichter brannten.
    Jetzt ist es 2.20 Uhr. Meine Adresse habe ich längst vergessen und die achtlos eingesteckte Quittung für die bezahlte Übernachtung inzwischen verloren. Nur ein einziges Wort ist mir im Kopf geblieben: Rotary . Drei Silben, die an Europa erinnern. So heißt der Stadtteil, in dem das Green House liegt. Was tun? Acht Millionen Einwohner, Finsternis, sprachlos, orientierungslos, Ausgangssperre.
    Weit entfernt höre ich Verkehrsgeräusche. Vorsichtig bewege ich mich darauf zu. Sichtweite drei Meter. Eine halbe Stunde später lande ich auf einer Kreuzung, schwenke die Arme. Tatsächlich hält bereits das erste Fahrzeug, ein Sattelschlepper. Ich klettere ins Führerhaus, sage »Rotary«, der Mann nickt nur und gibt Gas. Nach dreihundert Metern stoppen wir vor der ersten Straßensperre. Sieben Soldaten, drei Mann Military Police , zehn Maschinenpistolen, vier querstehende Jeeps, Stacheldrahtverhau. Der Fahrer zeigt seine Sondergenehmigung. Auf die Frage nach meinem Namen antworte ich mit amerikanischem Akzent. Amerikaner sind Freunde, wir können passieren.
    Die Szene wiederholt sich, nur das Militär, die Straßenblockaden und Fahrer wechseln. Ich verteile meine Kaugummis. Die sind unübersehbar amerikanisch, wir haben freie Fahrt. Ins Leere. Angeblich ist immer dort, wo ich aussteige, Rotary . Alle sind hilfsbereit und alle haben keine Ahnung.
    Zuletzt ein Lieferwagen. Diesmal dauert es länger. Immer, wenn wir anhalten, reicht mir der junge Kerl einen Beutel mit Strohhalm. Die kalte Milch neutralisiert den noch immer alkoholschweren Schädel. Nach der sechsten Tüte heißt es wieder: »Rotary!«. Ich bedanke mich und tapse los. Die Nacht ist noch immer so dunkel, dass jeden Moment die Chance besteht, in eine der zahlreichen Baugruben zu fallen. Doch plötzlich erinnere ich mich eines Details, denn in unmittelbarer Nähe der Jugendherberge hatte ich das sonderbare Schild einer Subway-Station bemerkt: Das Deckglas war zur Hälfte verschwunden, innen flackerte ein Neonlicht. Sonderbar, da es in dieser Gegend noch keine U -Bahn gibt, nur seit Jahren daran gebaut wird. Entdecke ich das Teil, bin ich gerettet.
    Ein einsames, verbotenes Taxi fährt mit Standlicht auf mich zu. Ich muss mich hineinzwängen, da der Wagen schon voll besetzt ist. Die freundlichsten Mitfahrer der Welt. Vehemente Diskussionen. Rotary? Green House? Jeder weiß es und zeigt in

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