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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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warte auf den Tag.
    Schwierige Zimmersuche, überall Absagen, überall »complet«. Am frühen Nachmittag begebe ich mich ein zweites Mal zur Rue Debbih Chérif . Vielleicht habe ich jetzt Glück. Vielleicht ist der misslaunige Portier vom Hotel Afrique jetzt zugänglicher. Eine lausige Bude hat er heute früh in Aussicht gestellt. Da hinein will ich mich nun legen, drei nicht geschlafene Nächte nachholen.
    Als ich in die Straße einbiege, sehe ich vor dem Hotel eine Menschenmenge stehen. Die wollen sicher alle mein Zimmer, denke ich noch verdrossen. Dann höre ich ihn zum ersten Mal, diesen grausamen, grauenvollen Schrei. Wochenlang werde ich von ihm träumen und mich wundern, wie jemand so schreien, so bestialisch schreien kann.
    Das Unglück ist nicht zu überhören, nicht zu übersehen. Alle blicken hinauf, reden erregt aufeinander ein, deuten auf die Stelle, reden noch lauter, noch erregter. Aber keiner handelt, alle scheinen gelähmt, unfähig, auf dieses Schreckbild zu reagieren. Dort oben hängt sie, in Höhe des zweiten Stocks eines Wohnhauses. Genau gegenüber dem Hotel. Schönes altes Haus mit schwungvollen Balkonen auf jeder Etage, durchgehend die ganze Fassade entlang. Schwere Eisengitter mit je sieben teuflisch spitzen Zacken trennen die einzelnen Veranden voneinander.
    Auf einer dieser Zacken steckt die Katze. Man sieht, wie sie den Rücken nach oben krümmt und die Pfoten in den Maschendraht krallt. Um Abstand zu halten und das Eindringen des Metalls in ihr Fleisch zu verhindern.
    Auf dem Balkon stehen Farbtöpfe und eine Leiter. Durch die frisch gestrichenen Fensterrahmen sieht man ein paar Männer. Maler, die seelenruhig Wände vollpinseln, während ein paar Meter weiter eine Katze ihren Todeskampf austrägt. Ich eile auf das Haus zu. Im selben Moment tritt ein Kind heraus, ein vielleicht zehnjähriger Junge. Ich zeige ihm das Tier und bitte ihn, in die Wohnung zurückzulaufen und die Leute aufzufordern, etwas zu unternehmen.
    Der Junge versteht sofort. Von der anderen Straßenseite aus, mitten in der sich rapide vergrößernden Zahl der Zuschauer, sehe ich den Kleinen mit zwei Handwerkern auf den Balkon treten. Wie vermutet, wissen die Herren Bescheid. Man sieht ihre abweisenden Gesten und hört das wahrhaft animalische Schmerzensgebrüll der Katze. Ein abstoßend faszinierendes Bild. Als Jamel zurückkommt, hat er sechs Kinder im Gefolge. Wir reden kurz miteinander, dann stürmen wir das Treppenhaus hinauf. Ohne anzuklopfen, ohne einen Blick auf die Anstreicher zu verlieren, hasten wir durch die offene Wohnungstür, direkt hinaus auf den Balkon.
    Die Katze lässt mich nicht an sich heran. Sie kämpft um ihr Leben und versteht wohl jeden Eingriff von außen als Verschlechterung ihrer Lage. Als ich nicht aufpasse, reißt sie mir mit der Vorderpfote über die rechte Handfläche. Seltsam, die Leute unten lachen jetzt.
    Unsere linkischen Versuche scheitern. Hasserfüllt faucht sie uns zurück. Mit bloßen Händen ist dem Tier nicht beizukommen. Ich schicke drei der Kinder durch die Nachbarwohnung, die ebenfalls renoviert wird. Wir wollen von beiden Seiten attackieren. Eine Decke muss her. Unauffindbar. Als Notlösung ziehen wir ein altes Stück Tapete aus dem Müll. Die Kinder auf der anderen Seite sollen die Katze ablenken. Das klappt. Als sie den Kopf wendet, hülle ich blitzschnell das feste Papier um sie und packe zu. Aber die Katze lässt nicht los. Jetzt beginnt der eigentliche Kampf.
    Alle vier Pfoten wie Anker in das Drahtgeflecht verkrallt, wehrt sie sich mit ungeheurer Kraft, aus ihrer Todesfalle befreit zu werden. Dass wir ihr beistehen wollen, ich sie wegziehen und nicht aufspießen will – soweit reicht ihr Katzenhirn nicht. Irgendwann bekomme ich sie am Bauch zu fassen und spüre, dass sie keinen Millimeter über der Metallspitze schwebt. Die in das Gitter verankerten Pfoten retten ihr folglich das Leben. Deshalb auch dieses rasende Verlangen, nicht loszulassen. Ließe sie los, würde sich das Eisen unaufhaltsam in ihren Körper bohren. Jetzt weiß ich auch, warum sie schreit. Es ist das hinausgebrüllte Wissen, dass ihr Widerstand nicht ewig halten wird, dass der mit barbarischer Anstrengung nach oben gespannte Bauch irgendwann nachgibt und sie sterben muss.
    Wir beide geben nicht auf. Wobei mich die absurde Angst überkommt, ihr den Rumpf von den Füßen zu reißen, so stark sind Druck und Gegendruck. Ließe ich sie in diesem Augenblick los, die elend lange Eisenspitze würde wie ein

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