Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
ein solcher Laut. Zu gefährlich auch. Vielleicht panikt der Typ, schlägt härter zu als geplant. Ich höre mein Herz dröhnen. Kein Fehler meinerseits fällt mir ein. Außer Hemd, Hose, Schuhen und dem griffbereiten give away money – zwanzig Dollar – trage ich nichts am Leib. Dann kein Gedanke mehr, denn nur noch drei Meter von mir entfernt bewegt sich der Schatten. Und kommt näher. Und greift nach hinten, zieht ein dreißig Zentimeter langes Ding – »a knife«, blitzt es durch meinen Kopf – hervor, wirbelt es grausam lässig durch die Luft, fängt es cool wieder auf und setzt an. Zum Flötespielen.
In diesen Sekunden habe ich etwas gelernt. Über das Altern in Sekunden, über die Furcht, die Paranoia und die wunderbaren Überraschungen, die hier lauern. Hätte ich die Aufregung an einem anderen Ort erfahren, viel weniger Adrenalin wäre verschüttet worden. Was die Dramatik so enorm steigerte, war mein Bewusstsein, mich im Central Park zu befinden. Der hat romance , hat Mythos und Geheimnis. Und er verführt. Und macht Angst. Er ist wie Timbuktu, wie das Kap der Guten Hoffnung, wie Marilyn Monroe. Er kann nie wieder »normal«, nie wieder einfach nur Wiese und Baum und Strauch werden. Er ist längst eine Ikone der Menschheit geworden.
Schon aller Anfang, 1858, klingt märchenhaft. Bis kurz vor null Uhr des letzten Abgabetages arbeiteten die beiden Landschaftsarchitekten Olmsted und Vaux an ihrem Entwurf. Dann hetzten sie die Pferde zum Rathaus. Versperrt. Wilde Suche nach dem Hausmeister. Mit Engelszungen auf ihn einreden, aufschließen, die Pläne abgeben und: die Letzten sein und als Erste haushoch gewinnen. Die Hochspannung passt genau zur kommenden Sensation.
Lange war der Park nachts geschlossen, »denn bei Abenddämmerung«, so die Stadtväter, »wird er nutzlos für jeden guten Zweck«. Das ist ein gewagter Satz. Denn gegen halb zwei Uhr ziehe ich gerade über den Great Lawn und mittendrin knien zwei Personen. Was sie miteinander verbindet, ist – schon aus gewisser Entfernung unüberhörbar – ein guter, zutiefst menschlicher Zweck.
In den Strawberry Fields , die an den in der Nähe erschossenen John Lennon erinnern sollen, höre ich es seltsam rascheln. Es ist Tim, der treasure hunter . »Astrologisch gesehen«, klärt er mich auf, »liegt die erfolgversprechendste Zeit zwischen 1.45 und 2.55 Uhr.« Tim, nebenberuflich Programmierer, gleitet mit einer Metallsonde, ähnlich einem Staubsauger, über den Boden. Ein leises, schnarrendes Geräusch zeigt einen Fund an. Sogleich bohrt der Schatzsucher mit der mitgebrachten Harke ein Loch in die Erde und zieht das Objekt heraus. Dienstagnacht bin ich die ganzen siebzig erfolgversprechendsten Minuten dabei. Wir heben: elf Bierflaschenverschlüsse, einen abgebrochenen Hausschlüssel, zwei rostige Nagelfeilen.
Ich ziehe weiter. Unter einem Laternenpfahl, zwischen Sheep Meadow und West Drive , steht David. Der Wind fährt in die Blätter seiner einundvierzig offen daliegenden Thoras. Der Alte ist fahl und emsig: »Ich habe wichtige Geschäfte zu erledigen. Ich bete für meine Familie.« Dann ruft sein schweres Herz nach Gott, deklamiert er wie ein Schauspieler verschiedene Stellen aus dem Ersten Buch Mose , bricht mittendrin ab, kriecht fieberhaft über seinen Bücherberg und sucht nach etwas, das er nicht findet. »The right phrase, the right phrase«, murmelt er zerstreut. Ich werde ihn jede Nacht sehen. Rufend, kriechend, sich auf der Suche nach dem erlösenden Wort verzehrend, dem erlösenden Satz. Poor David, das kann dauern.
Der Central Park als Liebeslaube, als Schatzkammer, als Studierzimmer. Lauter gute Zwecke. Wie klug, dass er nicht verschließbar ist. Auch wahr: Die meisten, denen ich in diesen Nächten begegnen werde, haben etwas zu verbergen. Manchmal eine Schandtat, oft eine Sucht, einen Tick, eine Armut, ein Unglück, eine verbotene Lust. »Normale«, nicht getrieben von einem vehementen, heftigen Motiv, habe ich nicht getroffen. Doch, einmal, eine muskulöse Omi. Unser Gespräch lief über eine Distanz von zehn Metern. Mir lag an diesem Sicherheitsabstand. Die Luxusrentnerin im hautengen Trainingsanzug führte ihre Dobermänner an der Leine. Nein, auch sie war nicht sehr bürgerlich. Zu dunkler Stunde zum Joggen mit drei vierbeinigen Bodyguards antreten, wie viele Großmütter weltweit tun das?
Ein riskanter Abschnitt liegt zwischen 74 th und 79 th Street , hier liegt The Ramble , der Streifzug. Verschlungene Wege,
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