Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
jemandem zu begegnen, ist irgendwann alles zu finden. Auch Drogen, auch die Schatten, die entlang der Eingänge ab der 96. Straße (Westside) lungern, um die hastige Laufkundschaft mit der einschlägigen Ware zu versorgen. Auch Jeffrey, der hinter einer Platane an seiner Crackpfeife zieht, nach Minuten an sein Geschlecht fasst – »ich schwör dir, bin ich high, bin ich geil« – und zügig den kleinen Freuden der Selbstbefriedigung freien Lauf lässt. Auch Randy, der auf allen Vieren über einen Trampelpfad kriecht, schon blöd vom vielen Rauchen, schon besessen von der Idee, »dass hier ein dickes Bündel Dollarscheine herumliegt«. Auch Ben, der uralte Siebenundvierzigjährige, der mir einen Blick in seine Hölle erlaubt, indem er im Schein einer Straßenlampe nach einer »freien« Stelle sucht. Für seine krumme Nadel. Und sie nicht findet. Und genervt nahe dem Ellbogen reinsticht. Obwohl dieser Körperteil bereits ähnlich verwüstet aussieht wie die Beuge. Er sticht hinein und sticht daneben. Mehrere Fehlversuche, Blut fließt, Himmel, wie verzweifelt muss ein Mensch sein, um sich das anzutun. Auf seine Bitte leuchte ich mit einem Feuerzeug auf die rotschimmernde Beule. Um ihm beim Suchen zu helfen. Aber der Junkie stochert ein weiteres halbes Dutzend Male daneben, dann findet er die passenden drei Quadratmillimeter und drückt behutsam auf die Heroinspritze. Ben und sein in Schweiß gebadetes Gesicht entspannen sich, er sagt leise: »Jetzt fliege ich, jetzt fliege ich.«
Alle haben Platz im Central Park . Die Einsamsten, die Unglücklichsten, die Besessensten, die Originellsten. Als ich Deborah sehe, muss ich an einen Satz von Norman Mailer denken: »Wer nach New York kommt, sieht zuerst nur eines: Frauen, Frauen, Frauen. Und was für Frauen.« Wie verdammt richtig. Nur nicht hier, nachts. For this is a man’s world. Außer der Dobermann-Herrin bin ich keiner Frau begegnet. Deborah ist die zweite Ausnahme. Was sie hier auftreten lässt, ist ihr fröhlich verwirrter Verstand und der unbedingte Wunsch »to do some sightseeing«. Die junk lady fährt im Einkaufswagen ihr Hab und Gut spazieren. Ich darf wühlen und entdecke ein schmuddeliges Buch, The Travels of Odysseus . Ungelesen, Deborah ging nie zur Schule. So drehen wir ein paar gemeinsame Runden und ich erzähle ihr die Geschichte von diesem schneidigen Griechen, seinen Kämpfen und Tricks und seiner unbeirrbaren Sehnsucht nach Penelope. Ich erzähle alles, bis zum Ende, bis die beiden sich finden und lieben. Und Deborah ergriffen kommentiert: »How wonderful, this is a fresh story, really bad«, wie wunderbar, eine scharfe Geschichte, echt gut.
Das Bewusstsein der Bedrohung bleibt die sieben Nächte lang. Das Stündlein mit Deborah war die Ausnahme. Wie andere Ausnahmen. Aber das Grundgefühl permanenter Konzentration weicht nie. So wenig wie die ununterbrochene Suche nach möglichen Fluchtwegen. Das muss sein, nicht zuletzt, weil ich Leute registriere, die lieber unter sich blieben: Plötzlich bemerke ich einen, wie er den Park verlässt, hastig die Fifth Avenue überschreitet, die noblen Pflanzen vor den noblen Häusern aus der Erde rupft und in doppelter Geschwindigkeit das Diebesgut zurück ins Unterholz transportiert. Wo schon die Gangsterbraut wartet, um hurtig umzutopfen (um sie später zu verkaufen). Als der Blumenmann mich sieht, stülpt er nachlässig sein rechtes Hosenbein hoch und ein Haifischmesser kommt zum Vorschein, Subtext: »You’re looking for trouble?«
Andere reagieren grundsätzlich nervös. Auch wenn ich sie bei keiner Missetat entdecke. Loners , Männer, die niemanden mehr ertragen. Nicht auf zwanzig Schritt Entfernung. Einer nimmt Anlauf und holt mit seiner Plastiktüte voll leerer Bierdosen nach mir aus, schreit giftig: »Get lost, don’t fuck with me.« Der nächste lässt sein Rasiermesser aufschnappen. »What for?«, frage ich genervt. »To wipe your ass clean«, kommt es genervt zurück.
Eine Nacht, die Sonntagnacht, hat alles. Die Aufregung, die Attacke, das Glück schneller Beine, Blutlachen, eine abstruse Entdeckung. Ich bin im nördlichen Teil des Parks, noch dunkler, noch berüchtigter als der Süden, Höhe 102 nd Street . Wieder diese finstere, eisige Stille. Ich finde einen Abfallkorb und krame nach der Wochenendausgabe der New York Times . Lesen hat mich schon immer beruhigt. Diesmal nicht. Der erste Blick fällt auf die Großanzeige eines neuen Horrorfilms, Whispers in the Darkness . Sofort höre ich es
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