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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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wispern. Drei Schüsse peitschen. Niemand wispert, aber die Schüsse sind unheimlich wahr, hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter weit weg.
    Ich tapse weiter, auf leisesten Sohlen, suche nach der Stelle, wo vor Jahren – das Verbrechen ging durch die Weltpresse – eine Joggerin von einer Bande Jugendlicher an den Rand des Todes geprügelt und vergewaltigt wurde. Ich finde den Schauplatz und fahre herum. Stimmen aus einem Funkgerät, dann das Geräusch eines abfahrenden Motorrollers. Wenige Schritte weiter stoße ich auf eine kleine Holzhütte, verlassen. Wie ich später erfahre, handelt es sich um einen Beobachtungsposten der Polizei. Nach der Untat hier aufgestellt.
    Oben auf dem Great Hill , zehn Minuten später, kommt die Attacke: Zwei Burschen und ich, wir kreuzen uns. Die beiden sind als Raubritter unterwegs, nicht zu übersehen. Zu hungrig ihre Augen, zu unverschämt das Grinsen, zu günstig die Gelegenheit. Als sie sich umdrehen und starten, bin ich schon im zweiten Gang, mein Verdacht war der richtige.
    Den Vorsprung von fünf, sechs Metern kann ich bis zum Rand des Plateaus halten. Dann gibt es keine Laternen mehr, der Weg nach unten ist schwarz. Ich weiß aber genau, wo ich hineinrenne. Vier Mal habe ich hier John  K . getroffen. John war ein Totschläger, Einbrecher, Autodieb und Drogenhändler. Nicht ohne Stolz zeigte er mir sein drei Blatt starkes Strafregister, gestempelt und unterzeichnet vom Staat New York. Als ich an seinem Schlafplatz vorbeisprinte, sehe ich, dass er leer ist. Sicher hätte er mir geholfen. Aber die Gefahr ist schon vorbei, kein Ton ist mehr von den beiden zu hören.
    Unten auf dem erleuchteten West Drive fährt mir eine Polizeistreife entgegen. Ich solle auf der Hut sein, der Beifahrer: »Watch out for a black guy. Green shirt, five foot six, he shot someone.« Ah, die drei Schüsse. Zwei Minuten später bin ich am Tatort, Harlem , 110 th  Street / Powell Boulevard, direkt am Eingang zum Park. Der Angeschossene liegt in einem Ambulanzwagen. Sirenen, die Lichter, eine Menschenmenge, das warme Blut auf dem Asphalt. Ich komme mit einem Halbwüchsigen ins Gespräch, er kennt das Motiv: »Jealousy, man.« Er wirkt völlig unberührt von dem Geschehen, deutet nonchalant auf das gegenüberliegende Wohnhaus und fragt trocken: »Willst du? Meine Schwester wohnt im Erdgeschoss. Für einen Zehner kannst du sie haben.« Er scheint meinen Gesichtsausdruck falsch zu verstehen und fängt an, ihre Körperteile und Öffnungen einzeln anzubieten. Noch billiger.
    Ich vertröste ihn auf später. Irritiert blicke ich auf vier Männer, die gespannt auf die Blutlache starren. Polizei und Krankenwagen haben sich inzwischen entfernt. Auch die meisten Zuschauer. Die vier winken, ich nähere mich. Ein kleines, seltsames Stück Fleisch liegt da, einer bückt sich und hebt es auf. Blut tropft. Jeder nimmt es zwischen seine Finger.
    Kein Zweifel, ein zwei Zentimeter langes Stück schwarzer Oberlippe ist hier liegengeblieben, wohl bisheriges Eigentum des gerade abtransportierten Opfers. Einer der vier zieht sein Taschentuch heraus und wickelt es um die fünf paar Gramm Menschenfleisch. Er will es behalten, »as a souvenir«. Er lacht und spaziert davon, verschwindet Richtung East Drive . Ich stoppe die Zeit: 4.16 Uhr, eine tote Männerlippe wird in den Central Park getragen.

SCHREIE UND FLÜSTERN

WARUM REPORTER?
    Jeden von uns plagen Träume. Sie entstehen wohl in der Zeit, in der wir Kinder sind. Wenn wir Teil der Welt werden und nach unserem Platz in ihr suchen. Hat einer Pech, dann wird er als Kloschüssel-Fabrikant aufsteigen und irgendwann mit allen Kloschüsseln an die Börse gehen. Andere Kinder sind weiser. Das eine will als Doktor ganz Afrika retten, das andere als Geigerin verzaubern, das dritte als Koch die Sinnenfreuden der Menschheit vermehren. Was auch immer ein Kind träumt, der Traum soll eines Tages Wirklichkeit werden, soll sein Leben vielstimmig und herausfordernd machen.
    Da beginnt der Stress. Und er kann Jahrzehnte dauern. Oder immer dauern. Weil mancher, als Erwachsener, nie bei seinem kindlichen Wunschdenken ankommt. Einer wollte Pilot werden und landete auf dem Schreibtisch einer AOK -Filiale. Eine wollte ein Hotel führen und tippt Zahnbürsten und Karotten bei Aldi ein. Zwei wollten vor dreißig Jahren um die Welt segeln und schmieden noch immer Pläne. Warum ist das so? Warum gehen Träume vor die Hunde? Mangels Phantasie? Intelligenz? Glück? Talent? Unbedingtem Willen?

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