Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
denn alle benötigten sofortigen Beistand. Also wurde operiert, notoperiert, nicht länger als zwei, drei Zigaretten lang. Für Schönheitsoperationen fehlte die Zeit. Das hier war kein Hospital, eher ein Lazarett. Mit einem Kriegsgebiet direkt daneben.
Einmal sah ich Ken sich wegdrehen und die Augen schließen. Und mir fiel ein Satz von William Faulkner ein: »Sähe ein Mensch alles Elend aller Menschen im selben Augenblick, es würde ihn blenden.« Das muss so ein Moment gewesen sein, in dem man die Augen schloss, weil man die Welt nicht mehr aushielt.
Aber nicht alles ist schwarz und rot in meinem Gedächtnis. Am Ende dieser Nacht erinnerte ich mich auch an ein knappes Dutzend (weißer Ärzte). Junge Profis, die farbenblind und unsentimental schwarze Hautfetzen zusammenflickten. Das will etwas heißen, wenn man bedenkt, dass auch sie in die Schusslinie kamen. Kurz vor unserem Besuch war ein deutscher Chirurg getötet worden, mit einer Kugel im Kopf starb der Neunundzwanzigjährige. Ganz in der Nähe, auf einer Straße, auf dem Weg nach Hause. Ein schneller Mord, um sein Auto zu erbeuten.
Ken und ich hatten mehr Glück, viel mehr. Wir streiften durch Chicken Farm , einen Hotspot in Soweto mit knapp dreihundert Familien, ein Ort, noch verkommener als der Rest. Hier kämpften nicht Hühner ums Überleben, sondern Männer und Frauen. Weil hundsgemein arm und aussichtslos. Ein Fleischverkäufer saß am Straßenrand neben seinen Kutteln, mit einer Plastikdecke als Schutz gegen die Fliegenpest. Einer lungerte vor seinem »Easy Loo« und kassierte für den öffentlichen Abort ein paar Cent. Wohlweislich verlangte er verschiedene Preise, einmal für »small business«, einmal für »big business«. War der Kunde fertig, versperrte er mit einem Sicherheitsschloss wieder den Verschlag.
Und wir tappten in eine Falle. Zuerst ich, dann Ken: Eine Frau bat mich, ja bettelte, mit in ihre Hütte zu kommen. Sie wolle mir zeigen, wie heruntergekommen sie hier leben müsse. Und ich stand inmitten des Sperrmülls und hörte plötzlich die Stimme eines Mannes, nachdem er seine Waffe – das Klicken hinter meinem Rücken war eindeutig – entsichert hatte: »Give me your gun, give me your key.« Das war unverkennbar ihr Kompagnon, der mir hier aufgelauert hatte. Aber ich besaß keine Pistole, nur die Autoschlüssel. Die nahm er an sich und dirigierte mich hinaus. Wo zwei andere Halunken warteten, der eine mich durchsuchte (und nichts fand) und der andere mir sein Stilett an den Hals hielt. Während der Dritte, der Schwerbewaffnete, Ken auflauerte, von dem er wusste (die drei mussten uns beobachtet haben), dass er sich in einem Schuppen aufhielt, wo wir kurz zuvor mit einer Familie gesprochen hatten.
Sekunden später kam Ken aus der Tür, in voller Montur. Und jetzt passierte etwas, was mich für die nächsten Monate mit Albträumen versorgte: Der Halbwüchsige rannte auf Ken zu, hielt sein Eisen auf den Bauch des Fotografen gerichtet, keinen halben Meter entfernt, und schrie unmissverständlich: »Get me your cameras!« Aber das war nur Vorspiel, der kleine Albtraum. Denn Ken, der Wahnsinnige, hielt die Hände vor seine Nikons und schrie nicht minder laut: »No, no, no!«
Im selben Augenblick – das Messer an meiner Gurgel, die Schusswaffe vor Kens Magengrube – stürmte der Familienvater heraus, ein ganz einfacher Mann, und redete wild gestikulierend auf die Gangster ein: Was sie sich eigentlich einbildeten und dass wir zwei nur gekommen wären, um über die grauenhaften Zustände zu berichten. Und dass Mandela ihr Tun niemals billigen würde. Wäre ich nicht von Angst gebeutelt gewesen, ich hätte den Menschen umarmt. Für diesen beherzten Akt der Menschlichkeit.
Sein Rettungsversuch scheiterte, natürlich. Einer meiner Bewacher stieß den Alten zur Seite und der Revolverheld schrie ein zweites Mal. Und Ken, jetzt überirdisch tollkühn oder bar allen Wirklichkeitssinns, wich einen Schritt zurück und verneinte ein zweites Mal, noch verzweifelter brüllend als zuvor. Beide schrien jetzt, bis der vielleicht Siebzehnjährige die Nerven verlor und abdrückte. Und keine Kugel kam, nur ein trockenes Klicken, diesmal das Klicken einer Ladehemmung. Und er nochmals drückte. Und wieder kein Schuss das Magazin verließ.
Mehr Adrenalin konnte nicht schwappen. Ein solcher Stress beflügelte nicht mehr, er produzierte nur noch Todesangst. Zudem war klar, dass es sich um Amateure handelte. Die schneller als Profis die Balance
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