Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
paraffinverrußten Wänden, versaute Toiletten, der Geruch der Armut wehte aus jeder Ritze. Ken ließ sich Zeit mit den Bildern, erst sollte ein Gespräch entstehen, eine Ahnung von Vertrauen. So fragten wir und die sechzehn Männer im Raum antworteten. Bald immer hitziger, immer betrunkener, immer mitgerissener von ihren Tiraden. Irgendwann schienen sie uns zu vergessen (oder vielleicht war es genau umgekehrt und unsere Gegenwart spornte sie an) und sie holten ihre Speere und Schilder unter dem Bett hervor, ihre traditionellen Waffen. Und fingen zu tanzen an, umkreisten uns mit ihren dampfenden Leibern, stampfend, unbändig, keuchend und randvoll mit Alkohol und Hass. Und schrien ihren Zorn, ihre Morddrohungen gegen die Xosa in die Welt: »We are going to kill them! ’Til the end of all days!« Die ganze Wut von einsamen Männern, die an einem Sonntagnachmittag noch einsamer und verbitterter waren als sonst.
Hinterher, drei Stunden später, waren wir zufriedener als zuvor, ja, geradezu euphorisch traten wir ins Freie. Die Ausbeute war bemerkenswert, Kens Fotos sollten sich als grandios erweisen. Wie schwer beladene Goldgräber schlichen wir davon. Schönes Reporterleben.
Wir nahmen den Zug zur Endstation, wo unser Wagen stand. Die Abendsonne leuchtete auf die dunklen, entspannten Gesichter der Passagiere. Manche rauchten, bisweilen ein kurzes Lachen. Ein Junge suchte unter den Sitzen nach leeren Bierdosen. Keiner drohte, Sonntage waren meist friedlicher. Bis es knallte und ein Pflasterstein durch die Scheibe neben uns flog. Während der Fahrt, einfach so. Das Glas splitterte, wie durch ein kleines Wunder wurde niemand getroffen.
Als keine weiteren Geschosse kamen, trauten wir uns zurück auf die Sitze. Ken, das Genie, hatte noch in der Fluchtbewegung die Kamera hochgerissen und den Schrecken fotografiert. Er strahlte. Das war ein guter Tag.
Den Mann konnte man um so vieles beneiden: um seine Liebschaft mit seiner Frau, um seine Frühbegabung und – um seine Fähigkeit, mit Freunden umzugehen. Sein vertrautester Kumpel war Kevin Carter (der kurz darauf den Pulitzerpreis gewinnen sollte). Die beiden gehörten mit zwei anderen Fotografen – Joao Silva und Greg Marinovich – zum damals berühmten, ja in Insiderkreisen weltberühmten Bang Bang Club . Sie waren die Viererbande, die mit ihren Fotos unsere Vorstellungen vom damaligen Südafrika, zerrissen zwischen Vergeltung und Versöhnung, maßgeblich prägten.
Eines Nachmittags fuhren wir zu Kevin, der uns mit einem Grinsen in seine Wohnung bat. Durch eine mit fünf Stahlrohren gesicherte Tür. Gemütlich und phantasievoll eingerichtet. Wir tranken Tee und der Hausherr verteilte drei Joints. Alles war gut, wenn es nur unsere, wieder einmal, lädierten Nerven beruhigte. Dann gingen wir hinunter zum Geldautomaten, zu dritt, das war sicherer. Kevin wollte Geld abheben, um Ken ein Objektiv abzukaufen. Zum Superfreundschaftspreis. Wie zwei begnadete Kindsköpfe standen sie vor der Bank und spielten Käufer und Verkäufer. Ihre Nähe war nicht zu übersehen. Sie stand, geschmiedet in jeder Gefahr.
Es war das letzte Mal, dass ich Carter sah. Genau hundert Tage nach Kens Tod würde auch Kevins Leben ein Ende haben. Selbstmord via Abgase, vergiftet im eigenen Pick-up. Zerbrochen an seiner Heroinsucht. Er lebte als Weltverzweifler, der schon fünfzehn Jahre lang den Gedanken aushalten musste, sich eines Tages umbringen zu wollen. Dazu der Druck, die beruflichen Erwartungen, das anstrengende Land, die Geldsorgen (Drogen kosten). In seinem Abschiedsbrief stand: » I have gone to join Ken if I am that lucky«, ich bin fortgegangen, um Ken zu treffen, wenn ich denn soviel Glück haben sollte. – Das klang wie eine Liebeserklärung an den Freund.
Südafrika hielt uns in Atem. An einem Wochenende verbrachten wir eine Achtstunden-Nachtschicht in der Notaufnahme des Baragwanath Hospitals , des größten Krankenhauses Afrikas. Mitten in Soweto. Im Fünfzehn-Minuten-Takt wurden sie hier eingeliefert, die immer dunkelschwarzen Körper. Mit zwei Kugeln in der Lunge, ein paar Messerstichen im Rücken, im Bauch, im Oberschenkel, mit einem Spalt im Schädel, einer Blutlache im plattgeprügelten Gesicht. Und sofort kam erste Hilfe: ein Atemschlauch in die Nase, ein Katheter in den Penis, eine Spritze gegen die Schmerzen. Und die Krankenschwestern hingen ein zweisprachiges Schild ans Bett: »Dringend (das ist Afrikaans!) / Urgent«. Noch dringender hätte es heißen müssen,
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